Der gestohlene Traum
so?«, fragte Kartaschow und sah Nastja aufmerksam an, so, als hätte er verstanden, dass das, was sie sagte, nicht nur ihn betraf.
»Nicht immer«, seufzte sie, »aber bedauerlicherweise oft. Wissen Sie, in unserem Beruf ist es wie am Theater.«
»Am Theater?«, fragte Boris erstaunt. »Wie das?«
»Wir müssen uns oft verstellen. Nein, nicht einmal verstellen, sondern . . . Man muss sich Zwang antun. Das ist schwer zu erklären. Sie zum Beispiel können es sich erlauben, Ihre Auftraggeber zu mögen oder nicht, Sie können mit dem einen freundlich und offen sprechen und mit dem anderen unverbindlich und schroff. Man wird Sie dann vielleicht für einen schwierigen oder schlecht erzogenen Menschen halten, aber davon geht die Welt nicht unter, niemandes Schicksal hängt davon ab. Sie können Sie selbst bleiben und in Übereinstimmung mit Ihren Sympathien und Abneigungen leben. Aber wenn wir uns von unseren Gefühlen leiten lassen würden, könnte das für einen anderen zur Katastrophe werden, zum Ruin. Im Allgemeinen gilt der Täter als böse, und das Opfer ruft Mitgefühl hervor. In Wirklichkeit gibt es Verbrecher, die man so bedauert, dass es einem fast das Herz zerreißt, während die Opfer durchaus unangenehme und unglaubwürdige Menschen sein können. Und nun stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn wir nur denen glauben würden, die uns sympathisch sind, und die Verdächtigen unter denen suchen, die wir nicht mögen. Wenn wir aus dem Kreis der potenziellen Schuldigen von vornherein diejenigen ausschließen würden, für die unser Herz schlägt. Können Sie sich vorstellen, wie viele Verbrecher dann auf freiem Fuß bleiben und wie viele Unschuldige Schaden erleiden würden?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das in emotionale Schwierigkeiten bringen könnte«, bemerkte Kartaschow vorsichtig. »Das, was Sie sagen, liegt auf der Hand, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass Kripobeamte darunter leiden.«
»Das kommt niemandem in den Sinn«, winkte Nastja resigniert ab. »Vielleicht gerade deshalb, weil es auf der Hand liegt. Ich besuche manchmal einen Freund, der am Theater arbeitet, und schaue mir die Proben an. Er hat ständig damit zu kämpfen, dass manche Schauspieler nicht von ihrer persönlichen Beziehung zu den Figuren, die sie darstellen, absehen können. Als ich ihm vorgeschlagen habe, einen Psychologen zu seiner Arbeit heranzuziehen, hat er mich angesehen wie eine Geisteskranke. Es scheint ihm gar nicht in den Sinn zu kommen, dass der Mensch kein Automat ist, den man nach Bedarf ein- und ausschalten kann. Manchen Menschen gelingt das relativ leicht, aber andere können nie vergessen, wer und was sie in Wirklichkeit sind. Haben Sie nie darüber nachgedacht, dass jede gut gespielte Rolle nicht nur ein Wunder der Verwandlung ist, sondern auch ein Gewaltakt gegen die eigene Individualität?«
»Irgendwie ist mir das noch nie in den Sinn gekommen . . .«
»Und doch ist es so. Dabei ist jeder Gewaltakt gegen sich selbst ein Trauma, von dem man sich jedes Mal erholen muss, auch dann, wenn man sich diese Gewalt freiwillig antut und dafür Anerkennung und Erfolg erntet. Niemand hilft uns, mit diesem Trauma fertig zu werden, niemand bereitet uns auf diese Dinge vor. Es heißt immer nur, die Miliz sei hart und gefühllos oder bestenfalls gleichgültig. Und wie sollte es auch anders sein! Zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit werden dicke Bücher mit sicherheitstechnischen Instruktionen geschrieben. Aber an die Seele denkt niemand.«
Das Gespräch wurde unterbrochen, Subow betrat die Küche, der immer mürrische, unzufriedene Gutachter, der bekannt war für seine pedantische Gründlichkeit. Er und Olschanskij ergaben eine explosive Mischung. Der Untersuchungsführer schätzte Subow und arbeitete sehr gern mit ihm zusammen. Subow hingegen konnte Konstantin Michajlowitsch nicht ausstehen, er hasste seine ständigen Bevormundungen und seinen Befehlston. Im Grunde wusste Subow natürlich, dass Olschanskij ein hervorragender Kriminalist war. Aber seine Penetranz und sein autoritärer Ton. . .
Nastja sah Subow an und hatte den Eindruck, dass er nicht nur mit den Zähnen knirschte, sondern an jeder Nahtstelle seiner Gelenke.
»Olschanskij hat mir befohlen, dir auszurichten, dass du nicht mehr gebraucht wirst«, sagte er mit Todesverachtung in der Stimme. »Du brauchst also nicht auf uns zu warten, wenn du nicht willst.«
»Dauert es noch lange?«, fragte sie.
»Wir haben hier die ganze
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