Der gestohlene Traum
schwachen Kaliumpermanganatlösung bereitgestellt und zwang Bondarenko abwechselnd zum Trinken und zum Erbrechen.
Gegen Morgen war Sergej Bondarenko, der Redakteur der Zeitschrift ›Kosmos‹, endlich so weit, dass er wieder vernünftig sprechen und über die zurückliegenden Ereignisse berichten konnte. Als Valentin Kosarj ihm eines Tages von der seltsamen Krankheit erzählte, unter der die Freundin eines Bekannten litt, hatte Bondarenko sofort das sichere Gefühl, etwas Ähnliches schon einmal gelesen zu haben. Schließlich fiel ihm ein Manuskript ein, das einst ein älterer Mann, ein früherer Untersuchungsführer, wenn sein Gedächtnis ihn nicht trog, in die Redaktion gebracht hatte. Er sagte es Kosarj, und dieser wurde plötzlich sehr ernst. Mit solchen Dingen dürfe man nicht scherzen, meinte er, man müsse unbedingt die Wahrheit herausfinden, denn eine unsachgemäße psychiatrische Diagnose könne sehr verhängnisvoll für den Betroffenen sein.
»Machen wir es so«, schlug er Sergej schließlich vor. »Du suchst in deiner Redaktion nach dem Manuskript, und ich gebe meinem Bekannten deine Telefonnummer, damit er sich mit dir in Verbindung setzen kann. Einverstanden?«
»Meinetwegen«, sagte Bondarenko mit einem gleichgültigen Schulterzucken. Die Krankheit irgendeiner ihm völlig unbekannten Person interessierte ihn herzlich wenig, und er hatte nicht die geringste Lust, im Keller der Redaktion in alten Papieren und ausgesonderten Manuskripten herumzuwühlen. In den letzten Jahren war eine schreckliche Schreibwut ausgebrochen. Früher, in den Zeiten der Stagnation, hatte es so etwas nicht gegeben. Aber heute jagte ein Modethema das nächste. Mal war die Partei dran, mal die Willkür in den staatlichen Besserungsanstalten, mal die Homosexualität, mal Putsch, mal Korruption. Und jedes dieser Modethemen löste eine neue Welle von Schreibwut aus, jeder glaubte, er habe dazu etwas zu sagen. Die Zeitschriftenredaktionen ertranken in Manuskripten, doch die meisten von ihnen waren völlig unbrauchbar und landeten in den Kellern oder auf den Speichern der Redaktionen.
Aber Sergej konnte Valentin Kosarj, seinem besten Freund, der ihm schon so oft geholfen hatte, die Bitte nicht abschlagen. Noch am selben Tag begab er sich in den Keller und unternahm den gewissenhaften Versuch, das Manuskript zu finden, aber er blieb erfolglos. Trotz des scheinbaren Chaos hatte hier alles seine Ordnung, an die sich jeder hielt. Jede Abteilung der Redaktion hatte hier ihr eigenes Stück Wand, ihre eigenen Bereiche und Regale. Bondarenko untersuchte Zentimeter für Zentimeter sein »Territorium«, aber das Manuskript des einstigen Untersuchungsführers Smeljakow blieb unauffindbar. Er versuchte sich zu erinnern, ob er es wirklich in den Keller verbannt hatte. Vielleicht war der Text ja gar nicht so schlecht gewesen, und er hatte ihn zur Lektüre an den stellvertretenden Chefredakteur weitergegeben. Doch dieser hatte nie ein Manuskript in der Hand gehabt, das von einem Smeljakow stammte. Sergej war deshalb nicht sonderlich betrübt. Wenn das Manuskript nicht mehr zu finden war, dann eben nicht. Er hatte sich Smeljakows Adresse notiert, und die konnte Valentin an seine Freunde weitergeben, wenn sie daran interessiert waren.
»Erinnern Sie sich, ob Kosarj seinen Bekannten angerufen hat?«, fragte Andrej, während er die nächste Tasse Schwarztee aufbrühte und eine neue Schachtel Würfelzucker öffnete.
»Ja, natürlich. Er wollte direkt aus meinem Büro anrufen, aber dann fiel ihm ein, dass er die Telefonnummer nicht dabeihatte. Am Abend desselben Tages rief er mich an und sagte, sein Bekannter sei gerade auf einer Dienstreise, aber er, Valentin, habe ihm eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sobald Boris wieder in Moskau sei, würde er ihn sicher zurückrufen.«
»Wissen Sie noch genau, dass er seinen Bekannten Boris genannt hat?«, fragte Andrej nach.
»Ja, ich bin mir ziemlich sicher.«
»Erinnern Sie sich, wann genau das war?«
»An das Datum erinnere ich mich nicht. Aber ich weiß, dass es ein Freitag war, weil mich am nächsten Tag eine junge Frau anrief und sagte, sie hätte meine Telefonnummer von Kosarj bekommen, sie wolle sich mit mir treffen, um über das Manuskript zu sprechen. Das war an einem Samstag. Ich musste mich vor meiner Frau herausreden und sie glauben machen, ich müsse dringend ins Büro. Ich konnte schließlich nicht eine fremde junge Frau zu mir nach Hause einladen, Sie verstehen
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