Der gestohlene Traum
dass er diesen Jammerlappen in seine Mannschaft aufgenommen hatte, der es nicht einmal mit einem schwachbrüstigen Künstler aufnehmen konnte, nun hatte er sich von diesem Rotzlöffel auch noch hinters Licht führen lassen und nicht bemerkt, dass er angelogen wurde. Was hatte sich in Kartaschows Wohnung wirklich abgespielt? Hatte der Junge von selbst gestanden, dass er gekommen war, um den Zettel zu suchen? Oder hatte Kartaschow sich in einer dunklen Ecke seiner Wohnung versteckt und seinen Gast beobachtet, um in dem Moment, als dieser gefunden hatte, was er suchte, aus seinem Versteck hervorzukommen und loszuschlagen? Anders jedenfalls konnte Arsenn sich die Tatsache nicht erklären, dass Kartaschow plötzlich in der Redaktion aufgetaucht war und nach Bondarenko gefragt hatte. Der Grund dafür konnte nur der Zettel sein. Und an den konnte er nur durch diesen Bengel herangekommen sein. Dieser Schwachkopf von Onkel Kolja musste jedenfalls sofort klären, was Sache war.
Was Kartaschow betraf, so musste man ihn für alle Fälle im Auge behalten und herausfinden, ob er vorhatte, sich mit der Kripo in Verbindung zu setzen. Arsenn hielt sich für einen guten Menschenkenner. Die Tatsache, dass Boris selbst zur Redaktion gegangen war, konnte zweierlei bedeuten. Entweder kannte er in der Petrowka nur die Telefonnummer der Kamenskaja, und da er sie den ganzen Tag nicht erreichen konnte, hatte er sich schließlich selbst auf den Weg zur Redaktion gemacht. Oder er hielt es gar nicht für nötig, die Miliz in diese Angelegenheit einzuweihen. Morgen würde man mehr wissen. Ein einziger Tag würde genügen, um herauszufinden, welche Absichten Kartaschow verfolgte.
Und da war noch ein Gedanke, der Arsenn beruhigte. Wenn die Kamenskaja vorläufig nichts wusste, konnte man die Zeit nutzen, um sich ein wenig mit Smeljakow und Bondarenko zu befassen. Hoffentlich würde man ohne weitere Morde auskommen. Es gab schon zu viele davon . . .
* * *
Andrej Tschernyschew hatte in dieser Nacht das Gefühl, am Ende seiner Kräfte zu sein. Zuerst musste er Bondarenkos Frau schöntun und sie überreden, ihm zu verraten, wo sich ihr kranker Mann befand. Als er ihn schließlich in einer feuchtfröhlichen Gesellschaft in der Sauna gefunden hatte, versuchte Andrej, den netten Kumpel von nebenan zu spielen und sich so in Bondarenkos Vertrauen einzuschleichen, worauf es ihm gelang, den volltrunkenen Redakteur aus der Sauna in eine leere Wohnung zu transportieren, zu der er stets die Schlüssel bei sich trug. Anschließend rief er erneut Bondarenkos Frau an, redete mit Engelszungen und schwor ihr bei der heldenhaften Vergangenheit und lichten Zukunft der russischen Miliz, dass ihr Mann die Nacht nicht bei einer anderen Frau verbrachte, sondern sich vielmehr bei ihm, Andrej, befand, unter seiner fürsorglichen Obhut, und dass sie ihren Mann am nächsten Morgen nüchtern und völlig unversehrt an Leib und Seele Wiedersehen würde. Dann musste Bondarenko nüchtern werden und sich bereit erklären, Tschernyschews Fragen zu beantworten, ohne in seinem verkaterten Kopf alles durcheinander zu bringen.
Zuerst hatte Tschernyschew gehofft, mit einfachen Mitteln auszukommen. Er gab Bondarenko starken Tee und Kaffee zu trinken und steckte seinen Kopf unter den kalten Wasserhahn. Aber das Ergebnis blieb irgendwie einseitig: Bondarenko stand nach einer Weile zwar einigermaßen sicher auf den Beinen, aber sein Blick wurde immer trüber und seine Rede immer zusammenhangloser. Die Zeit verging, der Morgen rückte näher, und die Aussicht, eine brauchbare Aussage zu bekommen, wurde immer geringer. Andrej wurde nervös, dann wütend und geriet schließlich in Verzweiflung. In dem Moment, in dem die Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht hatte, klickte plötzlich etwas in seinem Kopf, als hätte man einen Schalter umgestellt, und er sah die Situation in einem neuen Licht. Stell dir vor, dass du einen kranken Hund vor dir hast, sagte er sich. Über einen kranken Hund würdest du dich schließlich auch nicht ärgern. Und ein betrunkener Mann gleicht einem kranken Tier. Ihm ist schlecht, und er kann sich selbst nicht helfen. Und er kann auch nicht sagen, was ihm wehtut. Wenn Kyrill mitten in der Nacht krank würde, was würdest du dann tun?
Die Antwort ergab sich von selbst. Andrej überwand seinen Widerwillen, brachte Bondarenko in einen sicheren Stand vor der Kloschüssel und steckte ihm zwei Finger in den Hals. Vorsorglich hatte er einen Fünfliterbehälter mit einer
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