Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
Schraubendreher, keine Flasche im Schrank. Dann muss ich die Flasche eben selbst holen.«
    Ein paar Minuten später begannen sich die Kollegen in Nastjas Büro zu versammeln. Viele waren außer Haus, aber etwa sieben Leute kamen doch zusammen. Als Letzter trat Gordejew ein, in einer Hand hielt er feierlich eine Flasche Sekt, in der anderen eine Plastiktüte mit Gläsern.
    »Meine lieben Freunde«, begann er gefühlvoll, »wir haben heute ein kleines Fest zu feiern, den Namenstag all derer, die den Namen der heiligen Märtyrerin Anastasija tragen. Unsere Nastja feiert nicht gern ihren Geburtstag, aber wir wollen ihr wenigstens zu ihrem Namenstag gratulieren. Möge sie noch viele Jahre so jung und so klug bleiben, wie sie ist.«
    »Und so faul«, fügte Jura Korotkow hinzu.
    Alle brachen in freundschaftliches Gelächter aus, Knüppelchen öffnete die Flasche und goss ein.
    In diesem Moment läutete das Telefon.
    »Hier ist Papa«, hörte Nastja Andrej Tschernyschew in der Leitung sagen. »Ich gratuliere dir, Töchterchen.«
    »Danke, Paps«, erwiderte Nastja mit einem glücklichen Lächeln. »Schön, dass du daran gedacht hast. Ich habe nämlich mit Ljoscha gewettet, um eine Flasche Cognac. Er ruft alle halbe Stunde an und erkundigt sich, ob du mir inzwischen gratuliert hast oder nicht. . . Nein, Papa, ich selbst war es, die geglaubt hat, dass du es vergessen würdest. Ljoscha hat die Wette gewonnen . . .«
    Am Ende des Gesprächs konnte Andrej kaum noch an sich halten vor Lachen.
    »Ich habe die Wette verloren.« Nastja setzte eine tragische Miene auf. »Jetzt muss ich die Flasche kaufen.«
    »Bist du etwa zu faul dazu?«, fragte Korotkow.
    Wieder lachten alle, tranken den Sekt aus, küssten Nastja der Reihe nach und gingen wieder auseinander. Doch so genau Nastja eines der Gesichter auch beobachtet hatte, sie hatte darin keine Spur von Erstaunen, Verwirrung oder Angst entdecken können. Da war einfach gar nichts gewesen. Sie hatte weder eine plötzliche Blässe bemerkt noch eine Aufwallung von Röte. Das Lächeln hatte völlig natürlich gewirkt, und die Stimme hatte kein einziges Mal gezittert. War es doch nicht er? Aber wer dann? Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet und die anderen nicht beachtet. Das war ein Fehler gewesen.
    Als sie wieder allein war, setzte sie sich an den Schreibtisch und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie waren also zu zweit. Knüppelchen hatte von Anfang an Recht gehabt, als er sagte, dass es vielleicht mehrere waren, oder sogar alle. Sie hatte das damals nicht ernst genommen, und als sie dem einen auf die Spur gekommen war, hatte sie voreilig beschlossen, dass er der Einzige war und es keine anderen gab. Schon wieder hatte sie sich getäuscht. In Wahrheit waren es zwei. Mindestens zwei, verbesserte sie sich. Oder womöglich sogar alle? Guter Gott, welch ein schauerlicher Gedanke!
    Es gelang ihr, sich zu überwinden und wieder in die Listen mit den Adressen Moskauer Einwohner des nicht gerade seltenen Namens Gradow zu vertiefen. Systematisch strich sie alle Personen, die aufgrund ihres Alters nicht infrage kamen. Plötzlich schnitt ihr etwas in die Augen. Sie kniff die Lider zusammen, in der Schwärze, in die sie nun blickte, schwirrte etwas umher, das widerwärtigen gelben Fliegen glich. Ihre Augen begannen vor Anstrengung zu tränen. Sie befeuchtete ein Taschentuch mit dem Wasser aus der Karaffe auf ihrem Schreibtisch, warf ihren Kopf zurück und legte sich das feuchte Tuch aufs Gesicht. Es wurde etwas besser.
    Nachdem sie das nasse Taschentuch auf die Heizung gehängt hatte, begann sie wieder in die Liste zu starren. Gradow, Sergej Alexandrowitsch, wohnhaft. . . Irgendwie gefiel ihr diese Adresse nicht. Warum eigentlich nicht? Straße, Hausnummer, Block, Wohnungsnummer. Eine Adresse wie jede andere.
    Sie schloss erneut die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An Ljoscha, an das köstliche Hähnchen, das ihr Stiefvater zubereitete, an den Cognac, den sie nicht zu kaufen brauchte . . . Federatiwnyj-Prospekt Nummer. . . Die verdammte Adresse ließ sie nicht los. Sie durfte nicht vergessen, ihren Stiefvater anzurufen, denn vielleicht würde sie nach der Arbeit zu ihm fahren. Und für diesen Fall musste sie Ljoscha instruieren. Er sollte allen Anrufern sagen, dass sie bei ihrem Vater war und erst spät nach Hause kommen würde. Federatiwnyj-Prospekt Nummer . . . Federatiwnyj-Prospekt . . .
    Plötzlich ging eine heiße Welle durch ihren Körper, die Hitze schoss

Weitere Kostenlose Bücher