Der gewagte Antrag
Zudem verschanzte er sich hinter einem ungemein pflichtbewussten Benehmen, ganz so, als habe sich zwischen ihnen nie etwas ereignet. Vielleicht hatte sie sich wirklich alles nur eingebildet.
Andererseits traf sie jedes Mal, sobald er ihr ein Schriftstück übergab und ihre Hände sich berührten, ein glühend heißer Schlag, und sie zuckte wie vom Blitz getroffen zurück. Sie war überzeugt, dass es Chad nicht anders erging. Sie sah es an seinem Blick, der sich verdunkelte, so wie es beim Cairn und in der Nacht beim “Thron Gottes” geschehen war. Es irritierte sie, dass er Gleichgültigkeit heuchelte, doch ein anderes Gebaren war nicht möglich, da außer der ständig gegenwärtigen Tante auch der Verwalter ein um das andere Mal ins Arbeitszimmer kam. Manchmal hatte Elinor den dringenden Wunsch, Chad bei der Hand zu nehmen und mit ihm bis zur Grenze ihres Anwesens zu reiten, in der stillen Hoffnung, unterwegs von einem Heer aufrührerischer Ludditen angegriffen zu werden. Dann hätten sie und er sich wieder verbergen müssen und vielleicht noch einige wundervolle Stunden miteinander verbracht.
Wenn er die Post erledigt hatte, begab er sich vom Arbeitszimmer in die angrenzende Bibliothek, um dort als Teil seiner neuen Pflichten für Mr. Challenor tätig zu sein. Auch an diesem Vormittag hatte er die Bibliothek aufgesucht, und, einer plötzlichen Eingebung folgend, stand Elinor auf und sagte entschlossen: “Ich gehe nach nebenan, um etwas nachzusehen, Tante Annabelle. Du musst mich nicht begleiten. Mr. Challenor ist drüben.” Sie schritt zur offenen Tür und sah Chad mit dem Rücken zu ihr am Kartentisch stehen, einen aufgeschlagenen Folianten vor sich. Leise, um ihn zu überraschen, betrat sie den Raum und stellte fest, dass der Bibliothekar nicht anwesend war.
Chad hatte das Rascheln von Röcken vernommen, drehte sich um und fragte: “Was kann ich für Sie tun, Mylady? Kann ich Ihnen behilflich sein, oder möchten Sie, dass ich Mr. Challenor hole?”
“Nein”, antwortete sie hastig. “Es genügt mir, dass Sie da sind. Womit sind Sie beschäftigt?”
“Mr. Challenor hat mich angehalten, alte Texte mit neueren Ausgaben zu vergleichen”, antwortete Chad. “Ich gehe soeben diesen Folianten durch und werde das eigenartige Gefühl nicht los, ihn schon einmal gesehen zu haben.”
“Das kann nicht sein”, widersprach Elinor. “Mr. Challenor ist vor drei Wochen durch Zufall auf ihn gestoßen.”
“Nun, ich meinte nicht diese Ausgabe, sondern eine andere”, entgegnete Chad stirnrunzelnd. “Wenn ich mich nicht täusche, befindet sich am Ende des Werkes eine Landkarte Australiens.” Rasch schaute er die letzten Seiten durch und fand tatsächlich den erwähnten Stich.
“Ja, Sie müssen schon einmal eine andere Ausgabe dieses Atlas in der Hand gehalten haben”, staunte Elinor. “Ich frage mich, wo es gewesen sein mag.”
“Ich auch”, murmelte Chad nachdenklich. “Aber Sie hatten doch einen Wunsch, Madam, nicht wahr?”
“Ja”, antwortete sie leichthin. “Ich möchte, dass Sie mich in den Raum mit den ausgelagerten, schadhaften Büchern begleiten. Dort ist ein Buch, das ich benötige. Es steht so hoch auf einem der Regale, dass ich Sie bitte, es mir herunterzuholen.” Elinor hatte sich absichtlich für ein bestimmtes, außer Reichweite aufgehobenes Werk entschieden, um einen Vorwand zu haben, Chad mitzunehmen.
“Wollen Sie hier warten, bis ich es Ihnen gebracht habe?”
“Nein”, sagte sie eine Spur zu hastig. Es war ganz und gar nicht in ihrem Sinn, in der Bibliothek allein zurückzubleiben. Da sie eine Begründung brauchte, warum sie sich ebenfalls in den Raum begeben wollte, erklärte sie eilig: “Ich möchte in Augenschein nehmen, welche Bücher dort untergebracht sind.” Sie ging Chad in das Kabinett voran, schloss hinter ihm die Tür und raunte ihm zu: “Vergessen wir das dumme Buch, Chad. Warum gehst du mir aus dem Weg?”
Er hatte die Leiter genommen, um das gewünschte Werk vom Regal zu holen, lehnte sie nun an den nächsten Schrank und drehte sich zu der Countess um. “Aus dem Weg?”, wiederholte er erstaunt. “Ich bin mir dessen nicht bewusst gewesen, Madam. Seit ich Ihr Sekretär bin, war ich ständig in Ihrer Nähe.”
“Sei nicht spitzfindig! Du weißt sehr gut, was ich meinte.”
“Spitzfindig?”
“Ach, unterlass es, dauernd meine Worte nachzuplappern! Ja, du weichst mir aus! Hör gut zu! Ich gebe dir jetzt den Befehl, dich mir hinfort nicht mehr zu
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