Der gewagte Antrag
entziehen. Hast du mich begriffen?”
“Sehr wohl, Madam. Ich darf mich Ihnen in Zukunft nicht mehr entziehen. Doch das habe ich weder heute noch in der Vergangenheit getan.”
“Chad!”, erwiderte Elinor drohend. “Lass die Wortklauberei! Leider kann ich meine Behauptung nicht belegen, aber du weißt sehr gut, wovon ich spreche. Du bist der durchtriebenste Mensch, der mir je begegnet ist. Was erheitert dich so?” Er lachte so ehrlich amüsiert, dass sie ihn am liebsten an sich gezogen und geküsst hätte. “Schnell, antworte mir, ehe meine Tante oder Mr. Challenor hereinkommen!”, fuhr sie eindringlich fort.
“Mein Schatz”, erwiderte er zärtlich und ergriff ihre Hand. “Dir ist doch klar, dass ich mich jetzt nicht mehr so betragen kann wie in der Nacht, als wir unter dem 'Thron Gottes' Zuflucht gesucht hatten. Ich bin nur dein Sekretär …”
“Und ich deine Herrin”, unterbrach sie ihn ungeduldig. “Warum erzählst mir Dinge, die mir längst bekannt sind?”
“Weil es unschicklich und unfair wäre, so mit dir zu reden, wie ich es gern möchte.”
“Unfair? Für wen? Für dich oder mich?”
“Für uns beide. Zwischen uns darf nichts sein. Das musst du in aller Klarheit begreifen. Du bist eine Frau von Stand, die ihren Ruf gefährden würde, ließe sie sich mit jemandem wie mir ein.”
“Angenommen, ich befehle dir, meinen Ruf zu ruinieren, Chad, was dann?”
“Ich befürchte, du weißt nicht, was du sagst.”
“Ganz im Gegenteil! Ich will, dass du mich liebst! Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?”
Elinors flammender Blick und der verschwörerische Ton, in dem die Unterhaltung geführt wurde, brachten Chad unwillkürlich zum Schmunzeln. Er fasste sich sogleich und antwortete ernst: “Nichts würde ich lieber tun, als deiner Order zu gehorchen, aber das darf ich nicht.” Er schaute Elinor an, und plötzlich war es ihm unerklärlich, woher die Kraft nahm, sich so zu beherrschen. Wenn Elinor Zärtlichkeiten von ihm wollte, sollte sie ihren Willen haben. Überkommen von der für sie empfundenen Leidenschaft, gab er alle Zurückhaltung auf, riss sie stürmisch in die Arme und küsste sie. Nur Sekunden später kam er wieder zur Vernunft. Er durfte sich nur von seinem Gefühl für Anstand und Sitte leiten lassen. Es war ausgeschlossen, Elinor zu lieben, auch wenn sie es wollte und er sich danach sehnte, sie zu besitzen. Hastig ließ er sie los, trat einen Schritt zurück und erkundigte sich mit schwankender Stimme: “Welches Buch soll ich Ihnen holen, Madam?”
Das Verlangen, das sie stets dann verspürte, wenn sie sich berührten, war stärker als jeder Sinn für die Verantwortung, die sie für sich und Campions trug. Seit dem Tode der Eltern hatte ihr ganzes Sinnen und Trachten nur ihrem Wohl und dem ihres Besitzes gegolten, bis sie zum ersten Male Chad Newcome begegnet war. Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er wandte sich ab und ergriff erneut die Leiter.
“Das Buch ist eine Ausgabe von Madame de Sévignés Briefen”, sagte sie leise. “Es steht dort oben in der vierten Reihe auf dem mittleren Regal.”
Chad rückte die Leiter zurecht und erklomm die Sprossen.
Kaum hatte er das Werk gefunden, vernahm Elinor schlurfende Schritte und rief betont ärgerlich aus: “Du meine Güte, Newcome! Wäre ich groß genug, hätte ich das von mir gesuchte Buch längst heruntergeholt. Es hat ja eine Ewigkeit gedauert, bis Sie es entdeckt haben!”
Chad zog den Band mit dem goldgeprägten Lederrücken heraus, drehte sich auf der obersten Stufe zu Ihrer Ladyschaft um und fragte verdutzt: “Wollen Sie sich über mich lustig machen, Madam? Sind Sie sicher, dass Sie das Buch überhaupt brauchen?”
Sie lächelte verschmitzt und setzte sogleich eine ernste Miene auf, als der Bibliothekar in den Raum trat.
“Ah, da sind Sie ja beide!”, sagte er erleichtert. “Sie haben Besuch, Mylady. Mr. Henson hat Sir Chesney Beaumont in Ihr Arbeitszimmer und Mr. Tallboys in den Türkischen Salon bitten lassen.”
“Besuch?”, wiederholte Elinor erstaunt. “Neuerdings geht es hier zu wie in einem Taubenschlag. In den letzten Wochen habe ich in Campions mehr neue Gesichter gesehen als in einen ganzen Jahr. Sie dürfen herunterkommen, Newcome, mit oder ohne die Ausgabe von Madame de Sévignés Briefen. Ich möchte Sie meinem Onkel vorstellen. Wahrscheinlich wird er Sie nicht akzeptieren, denn er hat gegen jeden etwas einzuwenden. Ich befürchte, Mr. Challenor, dass er mir schon wieder den
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