Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
selten Verdauungsprobleme ein. All das beeinträchtigt das Leistungsvermögen eines Bergsteigers, egal, ob männlich oder weiblich. Wer also nach Nepal kommt, um den Everest zu besteigen, hat schon seine erste große Leistung vollbracht, wenn er Kathmandu gesund verläßt.
Kaum in Kathmandu angekommen, traf Boukreev sich mit Henry Todd, um über die Sauerstofflieferung zu sprechen, aber Todd mußte zu seinem Ärger eingestehen, daß er nicht liefern konnte. Der Sauerstoff war schon vor Wochen in St. Petersburg auf einen Laster verladen worden. Die Fracht sollte nach Amsterdam und von dort mit dem Flugzeug nach Kathmandu gehen. »Der Laster wurde in Rußland angehalten, weil für ein anderes Frachtstück, das nichts mit uns zu tun hatte, die erforderlichen Papiere fehlten. Anstatt das betreffende Teil aus dem Container zu holen, hat man alles zurückbehalten«, lautete Todds Erklärung.
Todd wußte nur, daß der Sauerstoff, den er für Fischer und einige andere Expeditionen geordert hatte, an einer russischen Grenzstation festsaß. Man hatte ihm zugesichert, daß die Fracht »jederzeit« – also irgendwann und nicht an einem bestimmten Tag – weitergeleitet würde. Boukreev war verärgert. Sauerstoff konnte man nicht in jedem beliebigen Laden in Kathmandu kaufen. Das Sauerstoffproblem blieb ihnen also erhalten. Und es sollte noch größer werden.
Todd beruhigte ihn. Er hatte den Deal abgeschlossen und würde liefern. Falls der Sauerstoff nicht rechtzeitig eintreffen sollte, würde er schlimmstenfalls den Vorrat seiner eigenen Expedition hergeben, der bereits angekommen war.
Am 22. März traf Fischer in Kathmandu ein, um sich mit Boukreev und P. B. Thapa zu treffen. Sofort wurde er mit der Sauerstoffmisere konfrontiert, ließ sich aber durch Todds Zusagen, für die Ladung geradezustehen, beschwichtigen. Dann präsentierte Boukreev ihm noch eine schlechte Nachricht. Auch das Höhenzelt, das nach seinen Angaben im Ural angefertigt worden war, war noch immer in Rußland. Der Charterflug einer russischen Himalaja-Expedition, die das Zelt hätte mitbringen sollen, war verschoben worden. Und die Mountain-Madness-Gruppe sollte in vier Tagen eintreffen!
Am Abend lud Scott mich zum Essen ein. P. B. Thapa und zwei Sherpas, die Scott für die Expedition angeworben hatte, Ngima Kale und Lopsang Jangbu, leisteten uns Gesellschaft. Ngima (Neema) sollte als Sirdar für das Basislager mitkommen, wo er für Träger, Küchenpersonal, Proviant und Allgemeines verantwortlich war. Lopsang war Sirdar der Klettergruppe, dem die Hochträger unterstellt waren, die uns beim Gipfelsturm begleiten und auch als Führer unterstützen sollten.
Boukreev freute sich, daß Fischers Wahl auf Ngima, einen Veteranen aus acht Everest-Expeditionen, gefallen war. Ngima wirkte für seine sechsundzwanzig Jahre sehr reif und hatte viel Humor. Er würde alle bei Laune halten, wenn die Expedition von den unvermeidlichen logistischen Pannen heimgesucht wurde. Was Lopsang betraf, war Boukreev nicht so sicher, ob er der richtige Mann war. Der Dreiundzwanzigjährige hatte Fischer 1994 bei seiner erfolgreichen Everest-Besteigung begleitet und 1995 mit ihm zusammen den Broad Peak bezwungen. 8 Boukreevs Befürchtungen galten vor allem Lopsangs Jugend.
Henry Todd kommentierte Fischers Entscheidung für Lopsang folgendermaßen: »Sirdar wird man nicht von heute auf morgen. Man muß sich immer wieder bewähren, im Führen wie im Klettern. Lopsangs bergsteigerische Qualitäten waren über alle Zweifel erhaben. Aber bezüglich seiner Eigenschaften als Bergführer war ich mir nicht so sicher.« Todd befürchtete, daß ein junger Sirdar mit wenig Führererfahrung »eventuell alle möglichen Fehler macht und eine Riesenpleite verschuldet.«
Bei Tisch besprachen wir die vorrangigen Probleme – Sauerstoff und Höhenzelt – und teilten verschiedene Aufgaben wie Einkäufe und den Lastentransport ins Basislager unter uns auf. Ich sollte zusätzliche Kletterseile beschaffen. P. B. Thapa übernahm die Verpackung und den Transport der Vorräte zum Flughafen. Am 25. März sollten Ngima und ich mit der Fracht nach Shyangboche (3900 Meter) fliegen, wo Träger und Yak-Treiber alles übernehmen und ins Basislager bringen würden.
Ich war mit meinen Erledigungen rasch fertig, so daß mir bis zum Abflug etwas freie Zeit blieb, die ich vor allem mit Freunden aus Rußland verbrachte: mit Vladimir Bashkirov, einem renommierten Alpinisten, und Sergei Danilovi, einem
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