Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
sah ich, daß die Sherpas Fixseile bis Lager III anbrachten. Warum steigen wir jetzt nicht ein Stück auf und nehmen ein paar Seillängen mit?« Beidleman war einverstanden. Er fühle sich so fabelhaft, daß er sogar bis zum Lager IV aufsteigen könne, meinte er.
Wieder einmal besprachen wir mit unserer Gruppe die Notwendigkeit einer optimalen Akklimatisation und ermahnten sie, ihre körperliche Verfassung genau zu überwachen und ständig daran zu denken, daß sich in großer Höhe ungewohnte Gefühle und Reaktionen einstellen können. Als Führer konnten wir sie zwar beobachten, wie es aber wirklich um einen bestellt war, wußte nur jeder selbst. Nun kam es also auf Offenheit und Kommunikation an. Erste Symptome von Höhenkrankheit werden selbst von erfahrensten Bergsteigern oft nur als übliche Akklimatisationsprobleme mißdeutet – eine Fehleinschätzung, die tödlich enden kann. Immer wieder betonten wir, wie wichtig eine Kraftreserve war. Man darf sich nicht total verausgaben und muß den Satz »Ich kann nicht mehr« wörtlich nehmen. Wenn man nicht kann, dann soll man auch nicht. Dann heißt es stehen bleiben, umkehren und sein Leben retten.
Nach dem Abendessen nahmen wir Funkverbindung mit Fischer auf, der mit Pete Schoening noch immer im Basislager war, und besprachen mit ihm die AkklimatisationsTour für den nächsten Tag. Anschließend diktierte Sandy Pittman ihren Tagesbericht für NBC an Fischer, der ihren Text per Satellitentelefon an NBC in New York weitergab, wo Sandys Stimme »fast hörbar« war, Fischers jedoch »laut und klar«. In New York wurde die Nachricht eingegeben, digitalisiert und dann in die NBC World Wide Web Site eingespeist, damit Tausende elektronisch vernetzter Everest-Fans das Allerneueste erfahren konnten: »Wir haben uns hier mit Vorräten und unseren tüchtigen Sherpas gut eingerichtet.« Aus dem Mund eines Bwanas der Kolonialzeit hätte es auch nicht anders geklungen.
Am nächsten Morgen war vom Elan des Vortags bei den meisten nichts mehr zu spüren, und auch die Gespräche beim Frühstück klangen nicht mehr so lustig und angeregt wie beim Abendessen. Die Höhendifferenz von Lager I zu Lager II machte sich bemerkbar. Da wir aber die allgemeine Schlappheit nur für ein Symptom der üblichen körperlichen Anpassungsschwierigkeiten hielten, waren Neal und ich der Meinung, unsere Gruppe sei fit für den geplanten Aufstieg.
Boukreev und Beidleman packten je ein Seil in ihre Rucksäcke und machten sich mit der Gruppe auf den Weg. Boukreev stieg langsam an der Spitze, ständig auf der Hut vor schmalen Spalten, die unter der dünnen Schneeschicht, die in der Nacht gefallen war, kaum auszumachen waren. Nach zwei Stunden wurde das Gelände steiler, und Boukreev bog von der markierten Route nach links ab und wählte einen flacheren Anstieg, auf dem sie die restlichen dreihundert Meter bis zum Beginn der Fixseile in der Lhotse-Flanke zurücklegten.
Nach etwa dreißig Metern auf dieser neuen Route fiel mir in einiger Entfernung etwas Ungewöhnliches auf, etwas Dunkles, das aus dem Schnee ragte. Erst hielt ich es für ein Ausrüstungsteil, das bei einer früheren Expedition von einem Hochlager heruntergefallen war. Als ich näher kam, bemerkte ich ein Steigeisen an Kletterschuhen und dann die untere Hälfte eines menschlichen Körpers. Wer war das? Welche Tragödie hatte sich hier ereignet? Ich vermutete, daß es sich um einen Bergsteiger handelte, der vor einigen Jahren vom Lhotse abgestürzt war. Sein Leichnam war schließlich, entstellt und verstümmelt durch den tiefen Sturz über felsiges Gelände, an dieser Stelle liegengeblieben.
Boukreev, der seinen Rucksack abnahm, stand reglos da und blickte auf den Toten hinunter, während die anderen nichtsahnend nachkamen.
Durchdrungen von der Ewigkeit und Majestät der Berge, kam mir unwillkürlich eine Sitte der alten Römer in den Sinn. Beim Festmahl nach einer siegreichen Schlacht öffneten sich am Höhepunkt des Gelages nach köstlichen Speisen und Musik die Türen des Saales, und die Gefallenen wurden hereingetragen. Es folgte ein Augenblick ernster Besinnung, in dem allen vor Augen geführt wurde, welch hohen Preis der Sieg gekostet hatte.
War unsere Gruppe, die langsam näher kam, in der Lage, ihre Fähigkeit für die Gipfelbesteigung objektiv einzuschätzen? Dank der Sherpas, die sämtliche Lasten heraufbefördert hatten, war uns allen noch vor wenigen Stunden ein Grad an Bequemlichkeit vergönnt gewesen,
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