Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
Lopsang erhielt, glaubte, wenigstens diese eine Sorge loszusein. Das ist angesichts des tobenden Sturms sowie der Sorge um die Sicherheit von Lager und Teilnehmern und seines eigenen Befindens nicht weiter verwunderlich. Dieses Szenario – und ein ähnliches bei Rob Hall – nicht in Betracht zu ziehen, hieße die Möglichkeit in den Raum stellen, daß Fischer und Hall absichtlich den Entschluß faßten, ihre Sherpas zurückzuhalten oder ihre Bergführer vor dem Aufstieg vom Versäumnis ihrer Sherpas nicht in Kenntnis zu setzen. Beides hätte eine ernste Gefährdung von Führern und Kunden bedeutet, und nichts lag den beiden ferner, trotz unterschiedlicher Ansichten über Expeditionsführung und persönlichen Stil.
Und was die Seillängen betrifft, die Lopsang Jangbu und Ang Dorje schleppten, so haben sich viele erfahrene Hochalpinisten gefragt, warum auch nicht? Ein Sirdar nimmt ganz selbstverständlich Seil zur Reserve auf den Berg mit – aus vielerlei Gründen: Ein aufkommender Sturm könnte Seile fortwehen. Man könnte auf defekte Fixseile stoßen. Die Route muß womöglich geändert werden. Ein Unfall könnte zusätzliche Seillängen erfordern. Die vorliegenden Informationen könnten nicht hundertprozentig stimmen.
In 8600 Metern Höhe galt es, eine Reihe von Felsstufen zu überwinden, was eher eine Sache für klauenbewehrte Fabelwesen zu sein schien, als für gewöhnliche Sterbliche in hinderlichen Daunenanzügen. Von diesem Punkt an mußten Fixseile bis zum Südgipfel auf 8748 Meter angebracht werden. Nachdem sie über eine Stunde gewartet hatten, sagte Beidleman zu Boukreev, er wolle den halberfrorenen Kunden vorausgehen und dafür sorgen, daß die Seile befestigt würden.
Ich war mit Neal einer Meinung, da ich seine Entscheidung für sehr vernünftig hielt. Da ich mich gut akklimatisiert und so kräftig fühlte, daß ich damit rechnen konnte, gut voranzukommen, gab ich ihm meinen Sauerstoff. Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, die Flasche zurückzulassen und beim Abstieg wieder mitzunehmen. In Anbetracht unserer Verspätung und der Schwerarbeit, die vor Neal lag, bot ich ihm meine Flasche an, und er nahm sie.
Beidleman, hinter dem Klev Schoening ging, folgte Lopsang und Ang Dorje über eine kleine Bodenwelle und gelangte durch Neuschnee zu einem Sims, wo Lopsang vornübergebeugt dastand und sich erbrach. Beidleman, der sofort erkannte, daß man Lopsang die Schwerarbeit nicht zumuten konnte, holte aus dessen Packsack die Seile und machte sich mit Ang Dorje daran, sie bis zum Südgipfel zu fixieren. Stellenweise fanden sie alte Seile vor, die noch in Ordnung waren, an anderen Stellen mußten sie neue anbringen, eine sehr mühsame Arbeit. Während Beidleman und Ang Dorje weiterstiegen, war es Boukreev überlassen, die Kunden zu motivieren und sie wieder auf die Beine zu bringen.
Ich trieb sie an, weil wir bereits über eine Stunde auf dem Balkon standen und weit hinter dem Zeitplan herhinkten. An den Fixseilen ließ ich mich von einigen überholen, in der Hoffnung, ich würde Scott sehen, doch das war nicht der Fall. Ich wollte mit ihm über unsere Leute sprechen, da wir seit dem Aufbruch vom Lager IV kein Wort mehr gewechselt hatten und ich wegen vieler Details unsicher war. Zwar war mir der Plan im großen und ganzen klar, doch hatte es inzwischen einige Änderungen gegeben. Sollte ich vorausgehen oder zurückbleiben? Sollte ich unbeirrt zum Gipfel vorstoßen oder den anderen helfen?
Nachdem ich ihn auch nach längerem Warten nicht sah, stieg ich weiter, in der Meinung, er würde mich bald einholen, da er letzte Nacht mit Sauerstoff geschlafen hatte und ihn auch beim Klettern benutzte. Dann würden wir sprechen können. Beim Aufstieg sah ich, daß unsere Leute gut in Form, aber nicht bester Laune waren.
Kurz vor zehn Uhr schaffte Beidleman den Südgipfel, und eine halbe Stunde später folgte ihm Martin Adams. Beidleman weiß noch, daß ihm die Verspätung Sorgen machte. »Ich war richtig kribbelig«, sagte er. Adams sagte, daß er und Beidleman etwa eineinhalb bis zwei Stunden alleine auf dem Südgipfel waren. »Im Grund bestand das Problem darin, daß es hinter uns an den Fixseilen zu einem Totalstau gekommen war. Ein paar von Rob Halls langsamen Teilnehmern waren unserer Gruppe im Weg.«
Einer von Halls Kunden, Frank Fischbeck, dreiundfünfzig, Verleger aus Hongkong, hatte wenige Stunden nach dem Aufbruch kehrtgemacht und gehörte zu den ersten, die am 10. Mai den Rückweg
Weitere Kostenlose Bücher