Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
antraten. Um zehn Uhr dreißig kamen Halls sieben andere Kunden zwischen dem Balkon und knapp unterhalb des Südgipfels ins Stocken, in bunter Reihe mit Fischers Kunden – ausgenommen Martin Adams – und den Taiwanesen.
Wenn jeder seinen Sauerstoff entsprechend den Empfehlungen benützt hatte, dann war man nun bei der zweiten Flasche angelangt und hatte noch eine Reserve für ein bis zwei Stunden. Die dritten und letzten Flaschen (sechs weitere Stunden bei dem empfohlenen Verbrauch) mußten erst noch auf dem Südgipfel eintreffen. Die Sherpas, die den Reserve-Sauerstoff transportierten, waren wie die Kunden zwischen Südgipfel und Balkon aufgereiht. Einer aus Fischers Team bezeichnete die Situation als »totale Scheiße«.
Drei von Halls Kunden – John Taske, sechsundfünfzig, Lou Kasischke und Stuart Hutchinson, vierundreißig – steckten im hinteren Teil des Staus und kämpften sich die Seile hinauf, die Beidleman und Ang Dorje bis zum Südgipfel befestigt hatten. Sie kletterten hinter den Taiwanesen, die sie durch ihre Langsamkeit behinderten. Da sie getrennt voneinander aufstiegen, stellte jeder seine eigenen, von dünner Luft geprägten Überlegungen an und unterzog die Situation einer Analyse. Alle drei erwogen umzudrehen und abzusteigen.
Lou Kasischke erinnerte sich: »Ich stieg an Jon vorbei, und dann kam Stu, der direkt vor mir gewesen war, zurück, und Stu und ich besprachen die Lage. Ich weiß nur noch, daß er von zwei Faktoren überzeugt war: Erstens würde Rob alle zur Umkehr bewegen, weil wir uns so verspätet hatten. Der Stau an den Seilen machte es unmöglich, daß wir es, wie geplant bis dreizehn Uhr schafften. Unsere Umkehrzeit war dreizehn Uhr. Das war der zweite Punkt, von dem Stu überzeugt war. Ich weiß nur noch, daß ich sagte, ich wolle noch nicht absteigen. Dann setzte ich meinen Aufstieg fort, bin aber nicht weit gekommen.
Es war elf Uhr dreißig, und ich war im hinteren Teil des Seilstaus. Dort hing ich sehr lange. Als Langstreckenläufer habe ich große Übung darin, Anstrengungen und Härten zu verkraften. Ich halte mich wirklich für einen Ausdauer-Athleten. Und so verdrängte ich alles und machte einfach weiter. Das ist nicht unbedingt empfehlenswert, weil es gefährlich ist. Ich bewegte mich also Schritt für Schritt weiter. Und als ich dann im Stau ganz hinten war – knapp unter dem Südgipfel – fiel ich auf die Knie, hängte mich ins Seil ein und rastete. Ich war sehr stark dehydriert und zog einen Handschuh aus, um Schnee zu schöpfen. Das ist nicht unbedingt das Klügste, aber etwas anderes hatte ich nicht. Mein Wasser steckte als Eisblock in meinem Rucksack. Ich merkte, daß alle meine Finger Erfrierungen abbekommen hatten. Ich zog den zweiten Handschuh aus: dasselbe. Das war eigentlich keine Überraschung, ich hatte es gewußt. Aber es war mir in diesem Augenblick egal, weil der Everest-Gipfel für mich so wichtig war, daß ich ihn schaffen wollte, egal wie. Während ich rastete, kam ich jedoch irgendwie wieder zu mir, und ich überlegte, was wirklich mit mir vorging. Ich horchte in mich hinein und erkannte den Grad meiner Erschöpfung. Außerdem: die atemberaubende Aussicht vom Balkon, der herrlichste Blick den ich je gesehen hatte – davon war nichts mehr da. Man hatte jetzt talwärts keine Sicht mehr. Ich will damit nicht sagen, daß das Wetter schlecht war, doch es hatte einen Wetterumschwung gegeben.
Ich fragte Lhakpa, einen unserer Sherpas, wie lange noch – ich wußte, daß wir ganz nahe dran waren -, und er sagte, noch zwei Stunden. Als ich dann fragte, wo wir seiner Meinung nach wären, sagte er ›auf 8700 Meter‹. Ich war nicht einmal imstande – mein Gehirn war es nicht – die Meter in Fuß umzurechnen. So stand es also um meine Gehirnfunktion. Als ich hörte: zwei Stunden, erschrak ich. Ich glaube, in diesem Moment traf es mich wie ein Blitz. Ich wußte, daß ich ein Problem hatte. Es war nicht die Frage, ob ich noch zwei Stunden gehen konnte. Bis zum Gipfel würde ich es schaffen. Aber ich begann zu zweifeln, ob ich es wieder herunter schaffen würde. Ich hatte das Gefühl, ich würde entweder draufgehen oder ich würde weiß Gott wie runterkommen.
Da ich schon öfter in der Klemme steckte und es immer irgendwie geschafft habe, stritten nun zwei Stimmen in mir. Das weiß ich noch, es sind Augenblicke, die ich nie vergessen werde, da man mich immer vor dem Verlust der Vernunft in großer Höhe gewarnt hat. Zwei Stimmen kämpften in mir. Eine, die
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