Der Gipfel
halbvolle Flasche mitzunehmen.
Insgesamt hatte die Gruppe zweiundsechzig Sauerstoffflaschen in Lager IV, neun von Zvesda und dreiundfünfzig der leichteren Poisk-Flaschen. Einundfünfzig Prozent (Volumsprozente) des von Henry Todd erstandenen Sauerstoffs stand für den Gipfel zur Verfügung, der Rest war fast verbraucht (Pete Schoening und Ngawang Topche waren die größten Konsumenten gewesen). Eine kleine Menge lagerte für medizinische Notfälle im Basislager.
Der Sauerstoff in Lager IV stellte im Hinblick auf den ge planten Verbrauch das Minimum dar. Die neun Zvesda-Flaschen waren wegen ihres Gewichts für den Schlaf in der Nacht vor dem Gipfel gedacht. Die dreiundfünfzig Poisk-Flaschen blieben für den Aufstieg am 10. Mai reserviert.
Sechs Sherpas würden mit der Expedition zum Gipfel gehen, fünf wollten Sauerstoff verwenden. Der Sirdar Lopsang Jangbu ging ohne Sauerstoff, wollte aber eine Flasche für Notfälle mitnehmen. Die anderen fünf trugen je zwei Flaschen für den eigenen Gebrauch und zusätzlich zwei für Kunden und Führer. Insgesamt schleppten die Sherpas einundzwanzig Flaschen vom Lager IV bergauf.
Die sechs Kunden, Fischer und Beidleman trugen je zwei Flaschen und Boukreev eine. Kletterer und Führer hatten insgesamt siebzehn Flaschen bei sich.
Alle zusammen schleppten achtunddreißig Poisk-Flaschen, blieben also fünfzehn volle Poisk-Flaschen und das, was in den Zvesda-Flaschen von der Nacht in Lager IV an spärlichen Resten übrig war. Es gab nur einen winzigen Sicherheitsvorrat, viel zu wenig, um im Fall von Schwierigkeiten zu übernachten oder am 11. Mai einen zweiten Versuch zu wagen. Es hieß also: 10. Mai oder gar nicht. Für Charlotte Fox und Tim Madsen war dies keine Überraschung. Ihnen hatte man schon gesagt: »Ein Schuß und nicht mehr.«
Bei der Berechnung der benötigten Sauerstoffmenge stützte sich Fischer auf seinen Lieferanten Henry Todd. Bei einem empfohlenen Verbrauch von zwei bis zweieinhalb Liter pro Minute schätzte Todd, daß eine Poisk-Flasche für sechs Stunden reichen mußte. »Zwei müßten für zwölf Stunden reichen, und in diesen zwölf Stunden müßtet ihr (von Lager IV) zum Gipfel und zurückkommen, um euch eine dritte Flasche am Südgipfel zu holen.« Auf dem Papier war der Plan hieb- und stichfest.
Wenn das Wetter hielt und es keine Komplikationen gab, konnte man bei einem Aufbruch um Mitternacht damit rech nen, in zehn bis elf Stunden am Gipfel zu sein. Hielt man sich an Todds empfohlene Verbrauchsdosis, würden alle auf dem Gipfel des Everest noch Sauerstoffvorrat für ein bis zwei Stunden haben. Vom Gipfel – wiederum günstiges Wetter und keine Überraschung vorausgesetzt – würde man je nachdem eine dreiviertel bis zu einer Stunde zum Südgipfel absteigen, wo jeder eine dritte Flasche bekommen sollte, die die Sherpas dort deponiert hatten. Damit waren sechs weitere Stunden Sauerstoff gesichert, und wenn alles gut ging, hatte jeder seine Flasche, bis er Lager IV erreichte.
Als alle ihre zwei Sauerstoffbehälter in die Rucksäcke steckten, fragte Fischer: »Ist jemand fertig? Lopsang ist nämlich soweit, und wer fertig ist, soll mit ihm gehen.« Als Sandy Pittman vortrat, legte ihr Lopsang Jangbu ein Seil an, das er mit einem Karabiner an seinem Klettergurt festmachte. Gegen Mitternacht brach Lopsang zum Gipfel auf, hinter sich am Seil Sandy Pittman. Kurz nach ihr verließ Charlotte, die am 10. Mai ihren neunundreißigsten Geburtstag feierte, auf Beidlemans Drängen Lager IV.
Am Südsattel herrschte eisige Kälte, und es war Neuschnee gefallen. Ich fühlte mich nach dem Schlaf sehr gut ausgeruht, hatte mich aber noch nicht entschieden, ob ich mit oder ohne Sauerstoff gehen wollte. Für alle Fälle steckte ich Flasche und Maske in meinen Rucksack. Gemeinsam mit Martin Adams begann ich als einer der letzten unserer Gruppe mit dem Aufstieg.
Als letzter brach Fischer auf, um die Nachhut zu bilden. Vor ihm ging Lene Gammelgaard, die sofort umkehrte, als sie merkte, daß er weit zurückblieb. »Ich war erleichtert, als ich sah, daß er Sauerstoff benutzte, weil ich ihm immer wieder zugeredet hatte, ›nimm Sauerstoff oder leite die Expedition vom Lager aus‹, was er eigentlich hätte tun sollen. Jetzt war ich beruhigt, weil er mit Sauerstoff ging. Dann beeilte ich mich und schloß zur Gruppe auf. Als es vom Südsattel losging, stand für mich fest, daß ich am Gipfeltag keinesfalls allein sein wollte. Ich war viel allein geklettert, den Eisbruch
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