Der Gipfel
stieß ich auf Tiefschnee, kam aber ganz gut voran, weil Rob Halls Expedition vorgespurt hatte. Gegen sechs Uhr erreichte ich den Balkon, als der Himmel sich erhellte und in den schönsten Farben erstrahlte. Ein Blick zum Himmel und zum Lhotse-Gipfel, der genau in unserer Höhe war, zeigte mir, daß wir vom Wetter nichts zu befürchten hatten.
Auf dem Balkon drängten sich die Kletterer dreier Expeditionen zusammen. Sie benutzten die Atempause auf diesem natürlichen Rastplatz von der Größe eines Motel-Zimmers, um die erste Sauerstoffflasche mit der zweiten zu vertauschen, zu trinken und – ausreichend Energie und Koordinationsvermögen vorausgesetzt – um Fotos zu schießen. Adams sagte, daß man sich in dieser Höhe von einem Ort, »wo man kaum denken kann, an einen begibt, wo man das überhaupt nicht mehr schafft«. Sie hatten die »Todeszone« erreicht, jenen vertikalen Bereich zwischen Lager IV und dem Everest-Gipfel, wo Kälte und Sauerstoffmangel zusammenwirken, um einen in die Knie zu zwingen. Sich oberhalb von Lager IV an einer Stelle länger aufzuhalten, ist so angenehm wie ein Picknick auf einem Minenfeld.
Die Mountain-Madness-Kunden wußten, daß die zwischen Lager IV und dem Gipfel notwendigen Fixseile angebracht sein mußten, wenn sie den Balkon erreicht hatten. Sandy Pittman erinnerte sich: »Ich hörte, daß unsere und Rob Halls Sherpas Seile im voraus anbringen und schon um zweiundzwanzig Uhr losgehen wollten. Unser Aufbruch war für Mitternacht geplant.« Klev Schoening bestätigte: »Soviel ich wußte, sollte es so ablaufen.« Lene Gammelgaard stimmte mit ihnen überein: »Ich hörte Scott ausdrücklich sagen, die Seile würden bereits vorher angebracht, damit wir an keinem Punkt warten müßten.«
Die meisten Teilnehmer der Expeditionen von Fischer und Hall sind sich darin einig, was hätte sein sollen. Es hatte geheißen, daß Ang Dorje, Halls Sirdar, und Lopsang Jangbu, Fischers Sirdar, lange vor den Kunden losgehen und die Fixseile befestigen sollten, um Wartezeiten beim Aufstieg zu vermeiden. Aber dem war nicht so. Keiner der Sherpas war rechtzeitig gestartet, um die Seile anzubringen.
Bei der Lagebesprechung nach dem Aufstieg sagte Lopsang Jangbu, ein Mitglied der montenegrinischen Expedition, deren Gipfelversuch am 9. Mai gescheitert war, hätte zu ihm gesagt: »Schon Fixseil oben, du brauchst nichts.« Als Jon Krakauer seinen Bericht über die Expedition schrieb, zog er diese Erklärung in Zweifel und wandte ein, daß Führer von Fischers und Halls Expeditionen, denen man eine Änderung des Planes hätte mitteilen müssen, nichts erfuhren, und daß Lopsang Jangbu und Ang Dorje zusammen mit den Expeditionsteilnehmern aufbrachen und fast hundert Meter Seil mitschleppten. Dies war ein Vorgehen, »für das es keinen Grund gegeben hätte«, wären die Seile schon vorher durchgehend fixiert gewesen.
Krakauers »Beweis« hat viele verärgert, da sie ihn für weit hergeholt hielten. Fischer kam am Abend des 9. Mai erst um siebzehn Uhr dreißig in Lager IV an und war nach überein stimmenden Aussagen todmüde. Es ist durchaus denkbar, daß er, als er einen Bericht von Lopsang erhielt, glaubte, wenigstens diese eine Sorge loszusein. Das ist angesichts des toben den Sturms sowie der Sorge um die Sicherheit von Lager und Teilnehmern und seines eigenen Befindens nicht weiter verwunderlich. Dieses Szenario – und ein ähnliches bei Rob Hall – nicht in Betracht zu ziehen, hieße die Möglichkeit in den Raum stellen, daß Fischer und Hall absichtlich den Entschluß faßten, ihre Sherpas zurückzuhalten oder ihre Bergführer vor dem Aufstieg vom Versäumnis ihrer Sherpas nicht in Kenntnis zu setzen. Beides hätte eine ernste Gefährdung von Führern und Kunden bedeutet, und nichts lag den beiden ferner, trotz unterschiedlicher Ansichten über Expeditionsführung und persönlichen Stil.
Und was die Seillängen betrifft, die Lopsang Jangbu und Ang Dorje schleppten, so haben sich viele erfahrene Hochalpinisten gefragt, warum auch nicht? Ein Sirdar nimmt ganz selbstverständlich Seil zur Reserve auf den Berg mit – aus vielerlei Gründen: Ein aufkommender Sturm könnte Seile fortwehen. Man könnte auf defekte Fixseile stoßen. Die Route muß womöglich geändert werden. Ein Unfall könnte zusätzliche Seillängen erfordern. Die vorliegenden Informationen könnten nicht hundertprozentig stimmen.
In 8600 Metern Höhe galt es, eine Reihe von Felsstufen zu überwinden, was eher eine Sache für
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