Der Gipfel
Wilkinson, dem sehr an dem Interview lag, meldete sich gleich am nächsten Tag wieder, und Boukreev versuchte es von neuem, während ein russischer Dolmetscher mithörte. Er hatte so heftig zu kämpfen wie am Tag zuvor, diesmal aber in seiner Muttersprache, bis er schließlich wieder verzweifelt auflegte. »Die haben von den Bergen keine Ahnung. Und mein Englisch ist besser als das Russisch des Dolmetschers.«
Als Boukreev die Transkription des Interviewtextes las, die ihm Wilkinson gefaxt hatte, hob er resigniert die Hände. »Das ist unmöglich! Das ist nicht gut! Nicht gut!« Seine Antworten waren in der Übersetzung völlig sinnwidrig wiedergegeben worden. Wilkinson bekam Bescheid, das Interview sei unbrauchbar. Es enthielte so viele Fehler, daß Boukreev seiner Veröffentlichung nicht zustimmen konnte.
Nachdem ich alles noch einmal geschildert und die Fragen beantwor tet hatte, wurden meine Träume wieder schlimmer, und ich mußte immer schwer darum kämpfen, ohne die Story im Kopf zu schlafen.
Wilkinson faxte nun seine Fragen an Boukreev und bat ihn, sie zu beantworten, wenn er das Gefühl hätte, sie verstanden zu haben.
Am Morgen des 7. Juni flog ich von Albuquerque nach Seattle, fuhr direkt zu Jane Bromet und setzte meine Arbeit für Pete Wilkinson fort. Am nächsten Tag, kurz bevor ich zu einer öffentlichen Gedenkfeier für Scott ging, faxte ich ihm meine Darstellung, auch wenn sie unvollständig war.
Zur Feier waren Menschen aus aller Welt gekommen, um das Andenken Scotts zu ehren. Seine Familie und Freunde waren trotz ihrer tiefen Trauer sehr nett zu mir und dankten mir für meine Bemühungen. Und ich dankte ihnen, so schwer es mir auch fiel, für ihre Worte. Ich war innerlich am Boden zerstört und fand keinen Bezug zur Realität dieser Feier. Mein ganzer Einsatz hatte nicht ausgereicht, um Scott und Yasuko Namba zu helfen. Da mir die Veranstaltung sehr zusetzte blieb ich an diesem Tag für mich. Ich hatte kein Verlangen, mich mit meinen zahlreichen anwesenden Freunden zu treffen oder mit ihnen zu sprechen.
Am nächsten Tag fand wieder eine Feier statt. Diesmal sollte Scotts im privaten Kreis gedacht werden. Seine Eltern und Freunde sprachen von seiner Arbeit und seinem Leben, und wie am Tag zuvor war es auch diesmal nicht einfach für mich. Das Dasitzen fiel mir so schwer, daß ich aufstand und mir eine Ausstellung von Scotts Fotos ansah.
Scott und ich waren uns in manchem ähnlich gewesen, in vielem aber hatten wir uns unterschieden. Trotz unserer Differenzen und Meinungsverschiedenheiten hatte ich ihn als Mensch und Bergsteiger sehr respektiert. In fünf Jahren, vielleicht auch schon früher, würden nur noch seine Familie und seine engsten Freunde an ihn denken, doch war zu hoffen, daß alle seine positiven Eigenschaften, die er in die Bergsteigerei eingebracht hatte, in dieser Sportart weiterleben würden. Seine Beziehungen sowohl zu den Kameraden als auch zu den Kunden waren von enormer Begeisterung und Energie geprägt, die die Leute in ihren Bann schlugen. Er war wohl mehr Romantiker als Geschäftsmann, und das schätzte ich an ihm besonders. Seine Kraft, seine Liebe zum Leben und seine Warmherzigkeit waren in mir auf Resonanz gestoßen. Ich wollte auch in schwierigen Zeiten nicht vergessen, was der Bergsport ihm zu verdanken hatte, ebenso wie ich hoffte, einige seiner Eigenschaften annehmen zu können.
Zu Boukreevs Verwunderung und Betroffenheit bedeuteten die Gedächtnisfeiern kein Entrinnen vor der Presse. Er tat sein Bestes, um die Fragen der Journalisten zu beantworten. Die Zeitschrift Life und der Fernsehsender ABC wollten Interviews, und Boukreev gab sie. Er war bemüht, sich verständlich zu machen, weil er hoffte, dazu beitragen zu können, die »Gretchenfrage« zu beantworten: Was war wirklich geschehen? Boukreev kannte aus dem eigenen Erlebnis heraus ja nur Teile der Story. Er kämpfte selbst darum, um zu begreifen, was schiefgegangen war.
Er sprach auch mit Jon Krakauer, der Interviews mit allen Expeditionsteilnehmern machte, um ihre jeweilige Version der Geschichte zu hören. Rückblickend sagte Boukreev, daß das Interview seiner Ansicht nach sehr voreingenommen geführt wurde und sein unzulängliches Englisch Krakauer frustrierte. In dem Bemühen, sich Krakauer besser verständlich zu machen, gab Boukreev ihm eine Fotokopie seiner Antworten auf Pete Wilkinsons Fragen. Darunter war auch eine, die sich auf sein Zusammentreffen mit Scott Fischer oberhalb des Hillary Step
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