Der Gipfel
mich über diese Neugierde nicht genug wundern. Was macht Wracks, Kriege, Fehlschläge und Katastrophen so faszinierend? Für mich ist es unbegreiflich.
Ich und die meisten anderen Expeditionsmitglieder taten alles, um der Presse auszuweichen, da wir unter uns bleiben wollten. Wir alle sahen die Welt nun mit anderen Augen, in leuchtenderen Farben, und nahmen die einfachen Freuden des Lebens deutlicher wahr. Wer das Glück gehabt hatte, wohlbehalten zurückzukehren, genoß diese Momente der Neuentdeckung des Lebens in vollen Zügen.
Am 24. Mai hatten Neal und ich alles erledigt. Wir verabschiedeten uns von den Sherpas, regelten unsere Angelegenheiten im Ministerium für Touristik und fuhren zum Flughafen, um nach Denver, Colorado, zu fliegen. Von dort wollte Neal weiter nach Aspen, während ich bei Freunden bleiben würde. Als wir die Maschine bestiegen, glaubten wir beide, daß wir die Ereignisse des 10. Mai nun für eine ganze Weile hinter uns hätten.
Boukreev und Beidleman hatten schon ihre Plätze in einer Maschine der Thai Airlines eingenommen und stellten sich auf die ersten Etappe ihrer Reise ein, die sie nach Bangkok und weiter nach Los Angeles und Denver führen sollte. Doch als Boukreev sich gerade anschnallte, kam ein Flugbegleiter mit der Mitteilung, ein paar Freunde wollten ihn vor dem Abflug noch sprechen.
Ich hatte keine Ahnung, wer mich sprechen wollte, und äußerte im Scherz zu Neal, daß Interpol womöglich hinter irgendeinem russischen Gauner her sei. In der Warte-Lounge wurde ich von zwei Journalisten mit Fernsehkameras empfangen, die mich mit vielen komischen Fragen über meine Verfassung und die »Bedeutung« meines Everest-Erlebnisses bombardierten. Ich sprach eine Viertelstunde lang mit ihnen. Belanglos, dachte ich. Belanglos.
Boukreev war verblüfft über das Medieninteresse und frustriert von den Fragen. Das Geschehen am Berg war eine Tragödie, die er in den wenigen Minuten, die er mit den Reportern sprach, unmöglich begreiflich machen konnte. Seine erste Begegnung mit der Presse war nur lästig gewesen, doch in den Wochen darauf folgten zahlreiche weitere Interviews, die sein Verständnis mitunter völlig überforderten.
Die Strecke zwischen Bangkok und Los Angeles verschlief ich, geplagt von unangenehmen Träumen. Ich stieg, dem Ende meiner Kräfte nahe, zum Gipfel auf. Ich sollte verirrte Kletterer suchen, konnte sie aber nicht erreichen. Die Träume hatten, obwohl sie sich immer um andere Geschichten rankten, ein einziges Thema: in Bedrängnis geratene Bergsteiger knapp außer meiner Reichweite.
In Santa Fe, Neumexiko, wohin er auf Einladung eines Freundes flog und wo er sich bis zu seiner Rückkehr in den Himalaja im Herbst ausruhen sollte, verschlief Boukreev den Großteil der ersten Tage. Manchmal schlief er zwanzig Stunden hinter einander – und die Träume kamen immer wieder.
Die Träume suchten mich auch in Santa Fe heim und störten meinen Schlaf. Beim Frühstück war ich dann so erschöpft, daß ich wieder ins Bett ging, und alles fing von neuem an. Immer war ich auf der Suche und wollte Leute finden. Dann klingelte das Telefon, und ich wachte auf. Obwohl ich ganz zurückgezogen lebte, hatte die Presse es ge schafft, mich in den Vereinigten Staaten aufzustöbern.
Der erste Journalist, der Boukreev ausfindig machte, war Peter Wilkinson, ein Mitarbeiter von Men’s Journal, der am 4. Juni anrief, als Boukreev gerade beim Frühstück saß. Wilkinson erklärte Boukreev, daß er ein Telefon-Interview machen wolle und bombardierte ihn mit gezielten Fragen. Boukreev, von den in rascher Folge auf ihn abgefeuerten Fragen verwirrt, hatte Schwierigkeiten, sie in seinem mangelhaften Englisch zu beantworten. Die Hand über der Sprechmuschel bat er seine Freunde um Rat. »Was soll ich machen? Ich kenne diesen Menschen nicht, ich weiß nicht, was er will.«
Obwohl er mit den Fragen zu kämpfen hatte, setzte Boukreev zunächst das Interview fort, um Wilkinson gefällig zu sein, gab dann aber frustriert auf. Sein Englisch reichte nicht aus, um Wilkinsons überaus komplexen Fragen begegnen zu können.
Ich wollte diese Dingen nicht verschweigen, weil ich wußte, daß der Journalist nur seine Arbeit tat und bemüht war, die Story von meinem professionellen Blickwinkel aus zu sehen. Aber ich wollte genau verstanden werden.
Boukreev vereinbarte, daß das Interview mit Hilfe eines russischen Dolmetschers fortgesetzt werden sollte, der ihm Wilkinsons Fragen übersetzte.
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