Der Gipfel
bezog, als Scott im Aufstieg begriffen und auf dem Weg zum Gipfel war:
»Scott kam herauf, und wir sprachen miteinander. Bis zum Gipfel war es je nach Tempo noch eine halbe oder ganze Stunde. Scott war der Boß, und ich war der Meinung, daß er seine Entscheidungen selbst treffen müßte. Er konnte stehen bleiben und auf Kunden warten oder weitergehen. Was ich mir dachte? Scott war Scott. Er trug die Verantwortung für die Expedition. Seine Fähigkeiten waren groß. Er war sehr gut bei Kräften. In dieser Höhe fühlt sich kein Mensch richtig wohl. Er ging weiter zum Gipfel. Ich weiß nicht. Als ich ihn fragte, wie er sich fühlte, sagte er, ›nicht sehr gut, aber okay‹. Wer Scott kannte, wußte, daß bei ihm immer alles okay war. Er war ein starker Bergsteiger, in Amerika einer der stärksten, deshalb war die Katastrophe mit Scott schwer voraussehbar.
Ich war in Sorge um die Kunden, aber nie wäre mir der Gedanke gekommen, daß Scott etwas zustoßen könnte. Ich sprach mit ihm über die Kunden und sagte, daß alle sich gut fühlten. Dann fragte ich ihn, was er von mir erwarte – mit all meinen Bedenken und in meiner Position. Was er darauf sagte? Wir sprachen von der Notwendigkeit, unten Hilfe bereitzustellen. Es kam auch zur Sprache, ob ich absteigen sollte. Er sagte, daß er es für eine gute Idee hielt und daß alles im Moment gut sei. Ich war der Meinung, daß es nicht gut wäre, wenn ich nur herumstünde und friere und warte. Viel besser wäre es, wenn ich rasch abstieg, in Lager IV Sauerstoff holte und den absteigenden Kletterern zu Hilfe käme, falls einen beim Abstieg die Kräfte verließen. In der Höhe und Kälte verliert man Kraft, wenn man untätig bleibt, und ist dann zu nichts mehr zu gebrauchen.«
Ende Juli erhielt Boukreev eine Kopie des Artikels von Kra kauer im Outside-Magazin. Martin Adams kam zufällig am gleichen Tag nach Santa Fe, um ihn zu besuchen. Sie hatten einander seit Kathmandu nicht mehr gesehen. In der Dämme rung eines Sommerabends mit Freunden auf einem Patio um einen großen runden Tisch sitzend, hörten Boukreev und Adams zu, als der Artikel laut vorgelesen wurde. Als Krakau er auf ihn zu sprechen kam, beugte Boukreev sich vor, um jedes Wort und dessen Bedeutung besser zu verstehen. »Boukreev war um halb fünf in Lager IV eingetroffen, ehe der Sturm mit aller Gewalt losbrach. Er war vom Gipfel rasch abgestiegen, ohne auf die Kunden zu warten – für einen Bergführer eine äußerst fragwürdige Haltung.«
Boukreev sah in die Runde und fragte sich, ob die anderen die Worte so mitbekommen hatten wie er.
Scott hat meinen Abstieg gebilligt, damit ich dann rasch wieder hinaufkonnte. So war es geplant. Und es hat geklappt. Ich verstehe nicht, warum er das schreibt.
Weiter deutete Krakauer in seinem Artikel an, daß die Kunden beim Abstieg nicht in diese katastrophale Lage geraten wären, wenn Boukreev bei ihnen ausgeharrt hätte. Eine Unterstellung, die geradezu niederschmetternd wirkte.
Daß das Wetter zu einem Problem werden könnte, wurde mir erst klar, als ich schon ziemlich weit unten war. Scott und ich hatten uns in erster Linie um den Sauerstoffvorrat unserer Kunden Sorgen gemacht. Ich tat das, was Scott von mir wollte. Wäre ich höher oben gewesen, als der Sturm mit aller Gewalt losbrach, dann wäre ich mit den Kunden umgekommen. Das ist meine ehrliche Meinung. Ich bin kein Übermensch. Dieses Unwetter hätte uns allen das Leben kosten können.
Boukreev entschuldige sich und ging ins Haus, um sein russisch-englisches Wörterbuch zu holen. Als er wiederkam, blätterte er darin und schlug einige Wörter nach, während weiter vorgelesen wurde: »Boukreevs Ungeduld beim Abstieg erklärt sich vielleicht aus dem Umstand, daß er keinen zusätzlichen Sauerstoff benutzte und relativ leicht gekleidet war und daher hinunter mußte.«
Diesmal sagte Boukreev nichts, als er aufstand, doch als er wenig später wiederkam, hatte er ein paar Fotos in der Hand. Er legte sie zwischen die Weinflaschen auf den Tisch, und Martin Adams griff nach einem, das ihn und Boukreev auf dem Gipfel zeigte. »Toli«, sagte Adams, »die Bilder brauche ich nicht. Du warst so gut angezogen wie alle anderen. Den Kletteranzug hast du von mir bekommen.« Er nahm die Zigar re aus dem Mund und sagte kopfschüttelnd: »Dieser Typ – er verzapft nichts wie blauen Dunst!« Das Foto zeigte Boukreev in dem Kletteranzug, den Adams ihm gekauft und geschenkt hatte, als er sich kurz vor der Expedition selbst
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