Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
in sich und vielleicht doch der wahre Zauber von Wrens wunderbarer Baukunst.Was auch immer er sich dabei gedacht hatte, seine Kirche berührte die menschliche Seele, dachte Amber, als sie auf die Knie sank, um zu beten, zuerst für Robert und Luc und dann unwillkürlich auch für Jay und all die Männer, die im Kampf für die Freiheit ihr Leben riskierten.
53
Mai 1940
In angespanntem Schweigen lauschten Amber und ihre Großmutter den Mittagsnachrichten der BBC, in denen über den deutschen Blitzkrieg gegen die Niederlande berichtet wurde.
»Hitler überrennt Holland, und dann wendet er sich nach Frankreich«, sagte Blanche grimmig zu Amber.
»Die Royal Air Force bombardiert Deutschland, und das britische Expeditionskorps wird zusammen mit unseren französischen Verbündeten die Deutschen sicher aufhalten können. Die Franzosen haben gesagt, sie vertrauen voll und ganz auf die Maginot-Linie.«
Sie saßen im kleinen Salon, da es jetzt im Mai nicht mehr notwendig war, dass sich der gesamte Haushalt um den Küchenherd versammelte.
»Greg ist letzte Nacht nicht heimgekommen«, wechselte Amber das Thema. »Ich habe heute Morgen in sein Zimmer geschaut, sein Bett war unberührt.«
»Ich will nicht über ihn reden, Amber. Du weißt, wie ich zu diesem Thema stehe.«
Amber unterdrückte ein leises Seufzen. Ihre Großmutter hatte sich nun vollkommen gegen Greg gewandt. Die Feindseligkeit zwischen ihnen gab Amber manchmal das Gefühl, zu Hause ebenfalls in einem Kriegsgebiet zu leben.
»Ich muss heute Nachmittag zu einer Versammlung des Women’s Voluntary Service , und …«
Blanche hielt inne, als der Butler nach kurzem Klopfen den Raum betrat und verkündete: »Dr. Brookes bittet darum, Sie sprechen zu dürfen, Euer Gnaden.«
»Was um alles in der Welt will Dr. Brookes denn von dir, Amber? Führen Sie ihn herein,Wilson, und dann sagen Sie bitte in der Küche Bescheid, dass wir Tee brauchen.«
»Dr. Brookes.« Amber begrüßte den Arzt mit einem herzlichen Lächeln, das jedoch erlosch, als sie seine ernste Miene sah.
»Ich bringe leider schlechte Nachrichten«, wandte er sich an Amber und Blanche.
»Schlechte Nachrichten? Was für schlechte Nachrichten?«, fragte Blanche scharf.
»Es geht um Greg.«
Amber sah, wie ihre Großmutter erstarrte. Ihr Gesicht war wie versteinert, als sie sich von dem Arzt abwandte.
»Welcher Art sind die schlechten Nachrichten, Doktor?«, fragte Amber besorgt.
»Ich fürchte, er ist tot. Ertrunken.«
Ertrunken. Amber legte die Hand an die Kehle.
»Lady Fitton Legh hat mich heute früh zu Lord de Vries gerufen, und während ich dort war, kam einer der Gutsarbeiter und sagte, man hätte im See eine Leiche gefunden.«
»Im See? Aber Greg war nicht mehr am See, seit Caroline …« Amber hielt inne, da sie bemerkte, dass sie im Schock indiskret wurde. Was für eine schreckliche Vorstellung, dass Greg sein Leben auf dieselbe Art verloren hatte wie Caroline.
»Er hat anscheinend letzte Nacht in der Stadt getrunken. Im Pub kam es zum Streit, und dann wurde er aufgefordert, das Wirtshaus zu verlassen. Ich kann mir nur vorstellen, dass er eigentlich zu Fuß nach Hause laufen wollte und sich dann verirrt hat.«
»Nach Hause laufen? Aber Fitton Hall liegt genau in der entgegengesetzten Richtung.« Amber schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid«, sagte Dr. Brookes. »Ich habe die Leiche natürlich schon identifiziert und die Polizei in Kenntnis gesetzt. Ich wäre auch schon früher gekommen, aber Lord de Vries hatte einen Rückfall, nachdem seine Enkelin ihm die Neuigkeiten überbracht hat … Mrs Pickford, ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
Als Amber die Besorgnis in Dr. Brookes’ Stimme hörte, drehte sie sich zu ihrer Großmutter um. Blanche war kalkweiß geworden. Sie hob die Hand, als wollte sie sie abwehren, und dann brach sie zusammen.
Amber stand in der Bibliothek am Fenster und starrte hinaus auf die Auffahrt, ohne viel mehr wahrzunehmen als ihren verzweifelten Wunsch, Jay möge bei ihr sein.
Der Schock, den die Nachricht von Gregs Tod ausgelöst hatte, war durch die Entdeckung, dass ihre Großmutter ein schwaches Herz hatte und ihr dies viele Jahre lang verheimlicht hatte, noch verschlimmert worden.
»Gregs Tod war einfach zu viel für sie«, hatte Dr. Brookes zu Amber gesagt, sobald sie Blanche ins Bett gebracht und er ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte, um ihrem Herzen jede Belastung zu ersparen. »Deswegen hatte ich ja darum gebeten, mit Ihnen
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