Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
sprechen zu dürfen.«
»Sie hat darauf bestanden, dass Sie mit uns beiden reden«, erwiderte Amber. »Sie wird sich doch erholen, oder?«
Es überraschte sie, wie sehr sie sich wünschte, dass ihre Großmutter überlebte, wie sehr sie sich davor fürchtete, sie zu verlieren.
»Ja, ich glaube schon. Es war nur ein leichter Anfall, eine Warnung, könnte man sagen, dass sie kürzertreten soll. Ich habe ihr das schon öfter gesagt. Ich habe ihr auch gesagt, dass sie Ihnen von ihrem Zustand erzählen soll, aber sie hat sich rundheraus geweigert.«
»Typisch Großmutter«, bemerkte Amber nur.
»Sie sind eine tapfere junge Frau«, erwiderte Dr. Brookes sanft, »und Sie haben einiges mitmachen müssen.«
»Eine Menge Frauen werden noch einiges mitmachen müssen, ehe der Krieg vorbei ist«, sagte Amber traurig.
Jay, Jay.Wie schwach sie war, dass sie sich nun nach ihm sehnte, damit er die Bürde schulterte, die doch eigentlich die ihre war und ihn nichts anging.
Gregs Beerdigung musste organisiert werden, die Gesundheit ihrer Großmutter war zu überwachen, Gutshof und Fabrik mussten am Laufen gehalten werden, und über allem lag wie ein dunkler Schatten die ständige Bedrohung durch den Krieg.
Der arme, arme Greg. Ob er seinen Frieden gefunden hatte? War er bei Bewusstsein gewesen? Hatte er es absichtlich getan? Hatte er …? Aber nein, sie durfte nicht daran denken und auch nicht daran, dass er in seiner Einsamkeit vielleicht beschlossen hatte, seinem Leben dort ein Ende zu setzen, wo Caroline ihres beendet hatte. Besser, sie blieb dabei, dass es ein Unfall gewesen war, dass er den falschen Weg nach Hause eingeschlagen hatte, verwirrt durch Alkohol und Drogen. Den falschen Weg nach Hause. Wie treffend. Die Worte hallten in ihrem Herzen wider. Gregs Erwachsenenleben war in vielerlei Hinsicht eine Reise auf dem falschen Weg gewesen.
Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten über ihre Wangen. Sie weinte nicht um den Mann, der ihr Cousin geworden war, sondern um den Mann, der er hätte sein können, um den Cousin, der einst ihr Freund gewesen war.
54
26. Mai 1940
Es war fast einen Monat her, seit man Gregs Leiche gefunden hatte, und nicht ganz drei Wochen seit seiner Beerdigung.
Amber hatte geweint, als sie aus seinem Testament erfahren hatte, dass er Rose ihrer Fürsorge anvertraut hatte, und manchmal weinte sie nachts um den Cousin, den sie verloren hatte. Irgendwie fiel es ihr leichter, um Greg zu weinen als um Robert und Luc. Jetzt war sie allein mit der Verantwortung für vier kleine Kinder, ihre Großmutter, die noch nicht wieder richtig auf den Beinen war, das Gut und die Fabrik.
Tom Mosley war zusammen mit dreiunddreißig anderen Faschisten verhaftet und ins Gefängnis in Brixton verbracht worden. Sie dachte an Diana. Wie lange es doch her war, dass sie ihren Hofknicks vor Robert geübt und dann von ihm ins Ritz eingeladen worden war, wo sie der schönen Aristokratin zum ersten Mal begegnet war. Das war nicht nur eine andere Zeit, sondern ein ganz anderes Leben gewesen. Was würde sie dieser jungen Frau sagen, wenn sie ihr heute begegnen würde? Welchen Rat würde sie ihr geben, wovor würde sie sie warnen?
Amber blieb stehen und drehte sich um. Sie beobachtete, wie die Sonnenstrahlen durch das frisch entfaltete Laub der Buchen entlang der Einfahrt fielen, während sie auf Bruno wartete, der im Frühlingsgras schnupperte.
Am Samstag hatte sie einen Brief vom Ministerium bekommen, in dem man ihr mitteilte, dass die herzoglichen Tore in Osterby, auf die Robert so stolz gewesen war, als er sie hatte entwerfen und aufstellen lassen, sowie die Geländer vor ihrem Londoner Haus requiriert wurden, um den Bedarf an Rohmaterial zur Produktion neuer Panzer zu decken. Robert hatte seine Tore geliebt. Robert … Manchmal kam es ihr vor, als entglitten er und Luc ihr; ihre Bilder waren noch in ihrem Kopf, wurden aber immer weniger real und verschwammen mit Dingen, an denen die beiden keinen Anteil gehabt hatten.
Der Krieg hatte so viele Veränderungen mit sich gebracht, und jeden Tag gab es neue.
In der Kirche war Amber am Vortag aufgefallen, dass mehrere Menschen schwarze Armbinden trugen, um anzuzeigen, dass sie jemanden verloren hatten. Auf See hatte es durch die deutschen U-Boote erschreckend hohe Verluste gegeben, und jetzt waren die Zeitungen voll von schlechten Nachrichten aus Frankreich, das vor kurzem von den Deutschen überfallen worden war. Es waren so viele widersprüchliche Geschichten in
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