Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
unglaubliche Stärke. Gleichzeitig ist sie so geschmeidig, dass man sie nie richtig zu fassen bekommt. Der menschliche Geist ist genau wie Seide, Amber«, hatte ihre Mutter erklärt. »Auch er lässt sich nicht festhalten; er ist ebenfalls sehr stark und sehr schön, wenn man die Gabe besitzt, diese Schönheit wahrzunehmen.Vergiss das nie, mein Liebling …«
»Amber? Bist du da drin?«
Die Stimme ihres Cousins Greg holte sie in die Gegenwart zurück.
Greg war dreiundzwanzig und hatte vor einem Jahr die Universität Oxford abgeschlossen. Er war ein attraktiver, breitschultriger Mann mit dichtem, welligem blondem Haar und von jenem lässigen Selbstvertrauen, das bei verwöhnten jungen Männern aus wohlhabendem Haus oft anzutreffen war. Er war der Liebling der Großmutter, genau wie sein Vater Marcus ihr Lieblingskind gewesen war.
Sein Vater war gestorben, als Greg noch ein Kind gewesen war, war in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gefallen, und seine Mutter war bei der Geburt des lang ersehnten zweiten Kindes, einer Totgeburt, gestorben, nachdem die Nachricht vom Tod ihres Ehemanns sie erreicht hatte. Greg war bei seiner Großmutter aufgewachsen.
Athletisch und extrovertiert, immer einen Scherz auf den Lippen und zu jedem Spaß bereit, hatte Greg, nachdem er Oxford und seinen Freuden den Rücken gekehrt hatte, sich die anfängliche Langeweile zu Hause in Macclesfield damit vertrieben, sich mit einer Gruppe junger Männer anzufreunden, die wie er aus wohlhabenden Verhältnissen stammten und sich mit Rennwagen, Flugzeugen, Tennis und Flirts auf Hauspartys vergnügten. Diese jungen Männer lebten vom Vermögen ihrer Familie und hatten es nicht nötig zu arbeiten. Greg und seine Freunde wollten nicht zurückblicken auf den schrecklichen Krieg, in dem weniger als eine Generation vor ihnen so viele Menschen umgekommen waren, junge Männer, die sterben mussten, ehe ihr Leben richtig begonnen hatte. Ihnen würde so etwas nicht passieren; ihre hektische Lebensweise verriet ihre Entschlossenheit, es nie so weit kommen zu lassen.Wenn ihnen der Schrecken dessen, was ihnen hoffentlich erspart blieb, im Nacken saß, so sprachen sie nicht davon. Das Leben war zum Leben da, und genau das wollten sie tun.
Amber betrachtete Greg eher als älteren Bruder denn als Cousin. Er bot angenehme Gesellschaft und war immer nett zu ihr gewesen.
Neben Denby Mill sollte Greg auch Denham Place erben, das dazugehörige Land und den Großteil des riesigen Vermögens, das die Großmutter ihrerseits von ihrem Vater und später von einem Onkel mütterlicherseits, einem Reeder aus Liverpool, geerbt hatte. Amber hing eigenen Träumen nach. Sie würde ihren eigenen Weg gehen.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Greg lächelnd und reichte ihr eine kleine, hübsch verpackte Schachtel, ehe er selbstbewusst zum Kamin schlenderte.
Amber hatte ihn zuvor mit seinem neuen Roadster wegfahren sehen, und da sie Greg kannte, vermutete sie, er habe ihr Geburtstagsgeschenk in letzter Minute gekauft, habe es an diesem Morgen in Macclesfield besorgt, als er wegen eines Treffens der Konservativen Partei ohnehin in die Stadt gemusst hatte.
»O Greg«, dankte sie ihm, warf ihm die Arme um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Aber ich kann es jetzt noch nicht aufmachen. Ich muss zu Großmutter, damit sie mir meine Geburtstagsüberraschung gibt.«
Ambers Stimme war die Aufregung deutlich anzuhören. Sie hatte sich so sehr nach diesem Augenblick gesehnt, hatte schon davon geredet und geträumt, bevor sie diesen Sommer von ihrem exklusiven Internat abgegangen war.
»Ich kann kaum glauben, dass ich in ein paar Wochen nach London gehe, um Kunst zu studieren. Was meinst du, welche Akademie Großmutter wohl für mich ausgesucht hat? Hoffentlich die Slade, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich dafür gut genug bin. Sie hat mich nie nach irgendwelchen Arbeitsproben gefragt, um sie dort vorzuzeigen, aber vermutlich hat sie Monsieur Lafitte vom Internat gebeten, sich für mich zu verwenden. Er hat immer versprochen, dass er das für mich tun würde. Greg, ich bin so aufgeregt, ich wünsche es mir so sehr, und meine Eltern …«
»Immer mit der Ruhe, altes Mädchen. Ich will dir nicht die Freude verderben, aber ich meine, du solltest dir lieber keine allzu großen Hoffnungen machen.«
Amber runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Greg fluchte leise. Offenbar wünschte er sich, er hätte nichts gesagt. Das Problem mit Amber war, dass sie
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