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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
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gelehnt. Wir gingen näher. Wer war so stockbesoffen, sich bei dieser Kälte auf der Straße niederzusetzen? Und wozu das Scheinwerferlicht? Ich versuchte, trotz meines Rausches einen klaren Gedanken zu fassen. Neben der Gestalt lagen zerbrochene Eprouvetten, einige Spritzen, mehrere offene Medikamentenschachteln. Auf dem Schaufenster klebte ein großes Plakat aus Pergamentpapier. Die Schrift, das sah man sofort, war irgendeine altmodische Schreibschrift für Feder und Tinte, man erkannte deutlich die Haar- und Schattenstriche, bei A und W sah man besonders deutlich, dass die aufwärts geschriebenen Striche die dünneren waren. Erst nachdem ich das registriert hatte, begann ich laut zu lesen:
    „Erschien darauf mit bunten Farben,
    die junge Königin im Glas.
    Hier war die Arzeney, die Patienten starben,
    Und niemand fragte: wer genau?
    So haben wir, mit höllischen Latwergen,
    In diesen Thälern, diesen Bergen,
    Weit schlimmer als die Pest getobt.
    Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben.
    Sie welken hin, ich muß erleben
    Daß man die frechen Mörder lobt.“
    Keine Frage: Das war „Faust“, der Tragödie erster Teil, Osterspaziergang. Jetzt erst bemerkte ich, dass Chiara sich ganz fest an mich anklammerte.
    „Ich habe Angst“, flüsterte sie, „ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen.“
    „Ob das ein Toter ist, wird sich erst weisen“, sagte ich und beugte mich hinunter. Es war eine Frau, und ich kannte sie. Das ist die Hübner, fuhr es mir durch den Kopf, die Eva Hübner-Hübner, kein Zweifel. Ich hatte sie vor vielen Jahren einmal im Theater gesehen. Als Emilia Galotti. Ein ödes Stück in einer noch öderen, altmodischen und quälend langweiligen Inszenierung. Auch Werktreue kann verheerend sein. Ich schob den Schal, der um ihren Hals geschlungen war, beiseite und versuchte, den Puls ihrer Halsschlagader zu erfühlen. Ich spürte nichts. Der Körper war warm, aber, wie mir schien, nicht mehr richtig warm, sondern in Abkühlung. Was den Tod betrifft, bin ich trotz meines kriminalistischen Interesses ein Laie. Aber wahrscheinlich war sie wirklich tot. Ich richtete mich wieder auf und griff zum Handy.
    „Was ist mit ihr? Was tust du?“, fragte Chiara.
    „Ich hol den Pirchmoser, die paar Schritte wird er doch herkommen können, der ist der Spezialist für Leblosigkeit.“
    „Ist sie etwa tot?“ Chiara schloss die Augen, und ihre Hand umfasste noch fester meinen Unterarm. Ich spürte ihr leichtes Zittern.
    „Ich habe Angst“, wiederholte sie, „meine erste Leiche.“ Ausgetanzt, mein Lieber. Vergiss den Shuffle. Hier war Kriminaltango angesagt. Pirchmoser hob ab: „Was gibt’s?“
    „Ich glaube, ich habe da eine Tote für dich“, sagte ich. „Komm sofort her, wir sind bei der Walfisch-Apotheke.“ So nannte der Volksmund die traditionsreiche Medikamentenhandlung. Ich hörte, wie Pirchmoser einen Fluch murmelte, dann legte er auf.
    „Der Pirchmoser kommt gleich, kannst du noch so lange warten, ich will das jetzt nicht unbeaufsichtigt lassen.“
    Chiara nickte: „Kein Problem, solange du mich nicht allein lässt.“
    „Ich denke nicht daran“, sagte ich. So schnell kann man nüchtern werden, oder sich zumindest wieder nüchtern fühlen. Schon bog Pirchmoser um die Ecke und näherte sich uns mit kräftigen Schritten.
    „Was ist denn das für ein Theater“, sagte er.
    „Theater trifft es ziemlich genau“, antwortete ich, „auf der Auslagenscheibe ein Faust-Zitat, Theaterscheinwerfer, eine tote Schauspielerin am Pflaster, das die Welt bedeutet.“
    „Schöne Sauerei“, sagte Pirchmoser, „ich wollte nach Hause gehen. Dass die Mörder morden, ist schlimm genug. Aber müssen sie es auch noch außerhalb meiner Dienststunden machen?“ Er beugte sich zur Frau hinunter und tastete – wie zuvor schon ich – ihren Hals ab, dabei musterte er die leeren Medikamentenschachteln.
    „Mausetot“, sagte er ungerührt. Nur seine Miene verfinsterte sich. „Lauter Schlaf- und Beruhigungstabletten. Mord oder Selbstmord, das ist die Frage.“
    „Ich kenne die Frau“, sagte ich, „Schauspielerin, hat aber seit Jahren nichts mehr gespielt, wurde nicht mehr besetzt, blödes Alter, und außerdem hat sie immer auf die modernen Regisseure und das Regietheater geschimpft. Da fällt mir ein: Die war im selben Verein wie der Bein, unser Toter vom Dom.“
    „Was sagst du da?“ Pirchmoser war ausnahmsweise überrascht. „Was für ein Verein? Muss man den kennen?“
    „Eigentlich nicht“, sagte

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