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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
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du die Rolle genommen?“, fragte Luzia.
    „Wo denkst du hin! Wer weiß, was dem noch alles eingefallen wäre. Ein perverser Regisseur. Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt: P-e-r-v-e-r-s-l-i-n-g! Dafür war ich am Ende der Spielzeit meinen Vertrag los.“ Mühsal schüttelte den Kopf, als ob er sich noch immer wundern würde und nicht fassen könne, was ihm dereinst widerfahren war.
    Natürlich besuchte keines der Vereinsmitglieder solch unsägliche Inszenierungen. Man sammelte die Kritiken und empörte sich, ohne Eintritt bezahlt zu haben, denn man wollte sich nicht dafür hergeben, durch die Anwesenheit bei solchen Aufführungen deren Auslastungszahlen womöglich merkbar zu verbessern. Auch die empörten Leserbriefe an Theaterdirektionen und Kritiker entstanden mit leichter Hand und ohne sich den Torturen des Besuchs der misshandelten Stücke auszuliefern. Man war, klassisch gestimmt, ein einzig Volk von Brüdern, obwohl auch Damen unter den Mitgliedern waren. Aber Schiller hatte nun einmal im „Wilhelm Tell“ „Brüder“ geschrieben und nicht „Brüder und Schwestern“. Die beschworene Werktreue: „in keiner Not uns trennen und Gefahr“ – schon gar nicht vom Wort „Brüder“.
    „Ich fürchte“, sagte Mühsal, „mehr Leute werden heute nicht mehr kommen. Ich erkläre die Sitzung offiziell für eröffnet.“
    Er schlug mit dem Messerrücken mehrmals gegen sein Weinglas, es klang wie leises Glockenläuten. Die Tür zum Clubraum ging auf, und ein Mann höheren Alters und mittlerer Größe stürmte herein, riss sich die Handschuhe herunter, fuhr aus dem Mantel, den er über eine Sessellehne hängte, wickelte den Schal vom Hals ab und nahm neben den bereits Anwesenden Platz.
    „Du kommst spät, John“, sagte Mühsal.
    „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“, antwortete John Miller.
    „Schiller, Wallenstein-Trilogie, Zweiter Teil, Die Piccolomini, Erster Akt, Erster Aufzug, Erster Auftritt“, murmelte Gans. Er war bekannt dafür, alle wichtigen deutschen Dramen des 18. und 19. Jahrhunderts auswendig zu können. Man kann nie wissen, pflegte er zu sagen, wann man einspringen muss. Da sich die modernen Regisseure aber meist nicht an die Reihenfolge in den Originaltexten hielten, nutzte ihm sein gespeichertes Wissen überhaupt nichts. An Engagements als Einspringer war in Wirklichkeit nicht zu denken, und so hatte auch er gute Gründe, dem Verein beizutreten.
    Mühsal ließ nochmals mit Hilfe des Messerrückens das Weinglas erklingen: „Es ist schade, dass heute nicht alle gekommen sind, denn es gibt traurige Nachrichten, aber vielleicht sind gerade deshalb einige ferngeblieben. Wie ihr aus der Zeitung wissen werdet, ist unser verdientes Mitglied, unser verehrter und geliebter Freund Erwin Bein durch einen Sturz vom unvollendeten Nordturm des Stephansdoms ums Leben gekommen. Ein Beispiel für jene tragische Ironie, die uns Theaterleuten ohnedies aus den besten Dramen bekannt ist. Auch Erwins Leben und Werken blieb unvollendet, da er doch allzu früh aus unserer Mitte abberufen wurde. Doch dies ist nicht der einzige Verlust, der uns in diesen Tagen trifft und betroffen macht. Unsere heiß geliebte, unersetzbare Eva Hübner-Hübner, die leidenschaftlichste und zugleich unschuldigste Emilia Galotti, welche die Theaterwelt in den letzten Jahrzehnten erleben durfte, ist ebenfalls von uns gegangen. In der Blüte ihres Lebens musste sie verblühen! Bei beiden, so lesen wir in den Zeitungen, war ruchlose Mörderhand im Spiel. Liebe Luzia, liebe Freunde, erheben wir unser Glas in Erinnerung an unsere verdienten Gründungsmitglieder ErwinBein und Eva Hübner-Hübner. Da wir heute schon Wallenstein zitiert haben, möchte ich unseren Verstorbenen einen berühmten Satz aus dem Prolog zu Wallensteins Lager mitgeben, den ihr alle nur zu gut kennt. Erheben wir unsere Gläser und vergessen wir nie: ,Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.‘“
    Alle standen auf, erhoben ihre Gläser und sprachen nochmals gemeinsam im Chor: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“
    „Eine schöne Heiterkeit ist mir das“, dröhnte in diesem Moment die Stimme Pirchmosers durch den Raum, während er hinter sich die Tür schloss. „Griaß enk!“, begrüßte er in breitestem Tirolerisch die Anwesenden.
    Mühsal erstarrte kurz, fasste sich schnell wieder, stellte sein Glas auf den Tisch und drehte sich um: „Sie sind?“, fragte er unwirsch.
    „Pirchmoser, Kriminalpolizei“, kam freundlich die Antwort.
    „Sie haben uns noch

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