Der Glanz der Welt
in dieser Stadt, verlauf dich im Leben. Wach auf, du verdammter Träumer. Das betretene Schweigen der anderen sollte dir Warnung genug sein. Die leichten Rempler vom Himmel,Pirchmosers verzweifeltes Herumfummeln an seinem Handy und die beredte Stummheit Goutzimskys. Mann, du lieferst hier eine unsägliche Vorstellung. Da bleibt kein Auge trocken.
„Cincin“, sang sie schon wieder, und die Gläser klangen erneut. Goutzimsky ergriff das Wort, einer musste es schließlich tun: „Ich freu mich, dass du gekommen bist, Chiara. Wie lange bleibst du?“
„Ich freue mich auch“, sagte sie, „und ich bleibe länger. Du weißt, über den Winter bin ich immer in Wien. Wie Mary Poppins: bis der Wind dreht.“ Sie sah in die Runde und fügte erklärend hinzu: „Ich habe hier studiert.“
Neugierig frage Himmel nach: „Was denn, wenn man fragen darf.“
„Das Leben“, sie lachte, „aber im Ernst, zuerst dies und das, überall ein wenig probiert, und dann bin ich bei der Astronomie hängen geblieben.“
„Astronomie?“, wiederholte Himmel ungläubig.
„Ja, warum nicht?“, sagte Chiara.
„Ja eh, warum eigentlich nicht“, stammelte Himmel. Entdeckte er gerade den Tänzer in sich? Nur das nicht. Ich war zuerst da gewesen. Sie sah mir tief in die Augen. Gott sei Dank, der Himmel muss warten.
„Habe ich das richtig verstanden“, sie blickte mich über den Rand des erhobenen Weinglases hinweg an, „ich darf dich Michele nennen?“ Hätte ich „nein“ sagen sollen?
„Mich auch!“, sagte Himmel.
„Du heißt Ägidius, schon vergessen?“, sagte Pirchmoser. War da ein ironischer Unterton?
„Der 2001er ist wirklich exzellent geraten“, versuchte Goutzimsky zu einer normalen Konversation überzuleiten. Alle nickten. Ich nickte auch.
„Grazie“, sagte Chiara. Sonst nichts. Was immer das gerade war, was immer hier lief, es machte nicht nur blind, sondern auch stumm, machte behindert, oder nennt man das besser „bescheuert“?
Der Wein war umwerfend. Dabei lag ich sowieso schon darnieder. Vielleicht der beste Brunello meines Lebens. Oder lag es an Chiara? Das Auge trank mit, und auch die Ohren sogen den Singsang ihrer Stimme begierig auf. Sinneswahrnehmungen sind totalitär. Wie würde der Wein schmecken, wenn man irgendwo ganz allein saß, mitten in der Wüste, weit und breit kein Mensch, nur das Kamel vis-à-vis schaut dir treu und durstig in die Augen. Nein, das würde dem Wein nicht schaden. Er würde immer so schmecken wie heute, wie hier. Denn du hast sie gesehen; du hast sie gehört; du hast sie gerochen; du hast sie mit jedem Schluck auf der Zunge gespürt. Das würdest du niemals vergessen. Egal, wie trocken die Wüste, wie treu der Blick des Kamels und wie geschrumpft sein Wasservorrat auch sein mochte. Der Tänzer in dir, left shoe shuffle, right shoe muffle, sinking in the sand, der Tänzer in dir ist verrückt geworden.
Wir tranken, cincin, lobten die Weine, der Alkohol stieg in den Kopf. Der Rausch, den es zu vermeiden galt. Irgendwann waren die Flaschen geleert, alles Lob war gespendet. Chiara sagte: „Kann mich wer zum Hotel begleiten?“, und sah dabei mich an. Himmel räusperte sich leise und stopfte die Zigarette zurück in die Packung, Pirchmoser putzte sein Handy, Goutzimsky versenkte seine Nase in einem leeren Glas, und Giuseppe, wo der bloß geblieben war? Da mein Glas leer war, konnte ich in kein „cincin“ mehr flüchten, musste mich stellen.
„Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen?“ Das war ich, der da sprach.
„Natürlich“, sie lachte mich an, „wir waren schon per du!“ Was weiß ich, was wir waren. Der Tänzer, der Tänzer. Plötzlich tauchte auch Giuseppe wieder auf, half Chiara in den Mantel. Sie winkte allen zu: „Ciao, bis demnächst.“ Ich winkte mit, und wir verließen gemeinsam das Giacomos.
„Wo müssen wir eigentlich hin?“, fragte ich, kaum dass wir draußen auf der Gasse waren.
„Es ist nicht weit“, sagte Chiara und hakte sich bei mir ein, „ich kenne den Weg.“
Leicht zog sie mich nach rechts die Gasse entlang. Einmal links, zweimal rechts. Das Kopfsteinpflaster war noch immer feucht. Die Lichter der Auslagen spiegelten sich verzerrt auf dem Trottoir. Auf einmal vor uns gleißendes Licht. Genau vor der Apotheke zum Heiligen Wal stand ein großes Stativ mit einem Bühnenscheinwerfer, ein Stromkabel lief in den benachbarten Hauseingang. Die Auslage der Apotheke war hell erleuchtet. Auf dem Boden saß eine Gestalt, mit dem Rücken gegen die Wand
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