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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
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die Tochter des Hauses Mascarello und dessen zukünftige Chefin!“, stellte Goutzimsky sie vor. Ich starrte sie an und bemerkte es nicht. Gab der Boden unter mir nach, oder hatte ich weiche Knie? Oder beides? Plötzlich spürte ich die Hand von Himmel auf meinem Kinn, das er mit sanfter Gewalt nach oben drückte, sodass sich mein Mund wieder schloss. Ich war sprachlos, meine Stimme versagte, ich räusperte mich mehrmals, alle stellten sich vor, ich krächzte nur unverständlich meinen Namen, während ich ihr die Hand gab, ihre Hand ergriffen ergriff. Mir fehlten die Worte, die Sprache. Left shoe shuffle, right shoe muffle, irgendetwas in mir, dem Nichttänzer, begann zu tanzen.
    Ich ahnte, wie es einst Goethe auf seiner Italienreise beim Überschreiten des Brennerpasses gegangen sein musste. Bei dem Glanze der aufgehenden Sonne die dunkeln, mit Fichten bewachsenen Vordergründe, die grauen Kalkfelsen dazwischen und dahinter die beschneiten höchsten Gipfel auf einem tieferen Himmelsblau, das waren köstliche, ewig abwechselndeBilder. Die Atmosphäre ward über die Wolken Herr und der Abend gar schön. So hatte der alte Geheimrat geschwärmt, als er sein Italien erblickte, endlich das gelobte Land zu seinen Füßen lag. Aber der Mann hatte Zeit gehabt und das alles erst Jahre später niedergeschrieben. Denn oben, am Brennerpass, da war er sicher schmähstad gewesen und hatte geschwiegen. Ich aber saß hier, musste hier und jetzt meinen Mund wieder aufbekommen, meine Sprache finden. Ich sah mein Italien. Da war es, hier stand es! Und ich hatte keine Worte dafür. Es gab keine Worte. Sie hatte mir ihre Hand entgegengestreckt, ich war aus dem Sessel hochgefahren und setzte mich langsam wieder hin, ihre Hand hielt ich noch immer.
    „Du wirst ihre Hand schon loslassen müssen“, sagte Himmel neben mir. Und er sagte es ziemlich trocken. Konnte es sein, dass er innerlich lachte? Lachte über mich? Über mich, den tanzenden Nichttänzer? Schnell ließ ich ihre Hand los und zog die meine zurück.
    „Ach, das ist schon in Ordnung“, sagte sie. Oder so ähnlich. Was weiß ich, was sie sagte! Die Worte waren mir gleich, denn ich badete in ihrer Stimme. Im Giacomos war die Sonne Italiens aufgegangen. Unerwartet und plötzlich. Nie hatte ich Goethe besser verstanden als in diesem Moment. Ein Abend gar schön und Herr über die Wolken. Warum sprach sie nicht weiter? War ich aufdringlich gewesen, hatte die Hand zu lange gehalten? Das war es! Ein aufdringlicher Tänzer, ein plumper auch noch dazu, der seiner Partnerin auf die Füße latschte, genier dich, verzieh dich, verschwinde aus ihren Augen. Du hast alles verspielt. Sie wird dich nie wieder ansehen, auf ewig verstummen.
    „Wollen wir etwas trinken?“ Sie sprach fast völlig akzentfrei, aber mit der typisch singenden Aussprache, wie sie nurItalienerinnen zuwege bringen. Sie war – welch Wunder! – doch nicht verstummt. Erleichtert atmete ich durch. Auch Goethe hatte oben am Brenner mit Gewissheit keine Luft bekommen, auch wenn er sich diesbezüglich der Nachwelt verschwieg.
    Goutzimsky schenkte ein, wir hoben die Gläser, stießen einer nach dem anderen an. Ich war der Letzte, der sein Glas gegen das ihre schlug, sanft, vorsichtig, ein leiser Klang. Wohin sollte ich schauen, sie sah mir tief in die Augen. Ich stehe am Brenner, sehe ins weite Land, das mich schwindlig macht. Es liegt wohl an der Höhe, dass mir, dem Bewohner der Ebenen, die Luft wegbleibt. Doch ich bin nicht am Brenner, sondern in den Tiefebenen Wiens. Unsere Blicke haken sich ineinander fest, von der Seite rempelt mich Himmel an und räuspert sich auffällig laut. Ich murmle mein „Prost“, und sie lässt mich nicht aus den Augen: „L’amore è cieco ma vede da lontano.“ Sie lacht und schlägt ihr Glas nochmals gegen das meine: „Die Liebe ist blind, aber sie sieht von weitem“, sagte sie.
    Was sollte das heißen? Ich war verdattert. Himmel räusperte sich wieder und griff nach einer Zigarette, die er doch nicht anzünden würde dürfen, Goutzimsky blickte diskret in sein Glas, Pirchmoser tat, als ob er eine neue SMS lesen würde, Giuseppe hatte sich verkrümelt, wahrscheinlich in die Küche. Das waren vielleicht Freunde! Und nochmals berührte sie mein Glas mit dem ihren: „Cincin“, und ich wiederholte, noch immer heiser: „Cincin“, und jetzt nichts als hinein mit dem Wein in den Körper. Besauf dich, sei stockbesoffen, vergiss Italien. Finde nie wieder ins Giacomos. Verlauf dich irgendwo

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