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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
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Souffleurkasten ebenso wenig fand wie zurück zum Text. Auch mit den Brettern war es nicht weit her, denn im Giacomos gab es keinen Holzboden. Es war Carrara-Marmor, der hier die große, die feine Welt bedeutete. Die Darsteller waren durchwegs Laien, was Ansätze von Schauspielkunst nicht ausschloss, zumindest die Eignung für das nach dem billigen Lacher schielende Schmierentheater war vielen Gästen nicht abzusprechen. Möglicherweise missbrauchten sie sogar das Giacomos als eine Art Probebühne. Aber das Theater ist eine abgeschiedene Welt im Kleinen, die Welt im Giacomos war jedoch ein weit geöffnetes Theater im Großen.
    Es war also kein Wunder, dass ein Verein unverbesserlicher Theaternarren das Giacomos als Stammsitz auserwählt hatte. Was heißt Narren? Fanatiker! Der „Verein gegen die Umtriebe des Regietheaters“ stand fest zur alten Tradition von Pathos und Überhöhung. Die Frage der Neuinterpretation von Klassikern stellte sich den Mitgliedern nicht. Mantel und Degen zählten noch immer zu den wichtigsten Theaterutensilien.Im vereinsinternen Umgang miteinander pflegte man ein leicht nasalierendes Burgtheaterdeutsch, auch wenn nicht jedes Mitglied einst wirklich selbst an der Burg gespielt hatte. Es zählte der Wille zur Werktreue, eine Problemstellung, die sich bei modernen Theaterstücken schon deshalb nicht stellte, weil natürlich bereits Gerhard Hauptmann jene Grenzen überschritten hatte, die selbst bei großzügiger Auslegung von Goethe, Schiller und – sei’s drum – Lessing einzuhalten waren, wenn man die hehre Kunst der Weimarer Klassik nicht den niederen Gelüsten eines effektheischenden, sensationslüsternen Publikums opfern wollte. Einmal im Monat tagte der Verein im Clubraum des Giacomos’. Es war eine kleine, aber illustre Runde vorwiegend älterer Damen und Herren, die sich einmal im Monat zusammenfanden. Sie kamen, bewaffnet mit Kritiken, die sie aus Zeitungen ausgeschnitten hatten, und debattierten heftig die neueste Torheit, die sich irgendein Regieschnösel aus der deutschen Provinz geleistet hatte, indem er Schillers „Räuber“ als Zollfahnder verkleidet oder aus Hamlet einen selbstbewussten Almjoschi in den Tiroler Bergen gemacht hatte.
    Luzia Winter, ihr Vereinsname lautete Lacrimosa, nach Raimunds Fee, berichtete atemlos: „Man muss sich das vorstellen! Hamlet in der kurzen Lederhose, Tiroler Hut, grob kariertes Hemd, stampft Butter und macht Graukas. Zu allem Überdruss nehmen sie noch eine Zeile aus ,Richard III.‘, verfälschen den Text, und während Hamlet einen Käselaib über die Alm rollt, jodelt er laut: ,Eine Kuh! Eine Kuh! Mein Königreich für eine Kuh!‘“ Luzias Empörung war grenzenlos.
    „Aber was rege ich mich auf“, deklamierte sie, „die Originaltexte kennen ohnedies nur wir Vereinsmitglieder und die paar bescheidenen Überreste des einstigen Bildungsbürgertums.“
    Ein heftiges Kopfnicken ging durch die Tischgesellschaft.
    „Und stellt euch vor“, setzte Luzia fort, „dann stolpert ein milkablau angemaltes Rindvieh irritiert auf die Bühne und bekommt offenen Szenenapplaus! Während der Hurra- und Bravorufe des Publikums torkelt das Tier unter Zurücklassung einer Kuhflade wieder von der Bühne. Jedenfalls beschreibt das der Kritiker vom Blatt so.“
    „Die Kunstflade ist sicher Absicht“, sagte Mühsal, der Vereinsvorsitzende.
    „Angeblich“, sagte Luzia Winter, „angeblich ist das Absicht. Bei den Proben soll es aber nie geklappt haben. Kunstflade finde ich übrigens gut, muss ich mir merken.“
    „Nun“, sagte Mühsal, „selbst so ein blödes Rindvieh kommt irgendwann dahinter, dass der Regisseur noch blöder als es selbst ist, und macht ihm ein flaches Hauferl auf die Bühne. Aber halt erst dann, wenn es der Text erfordert, nicht weil es die flache Regie verlangt.“ Mühsal lachte über seinen – wie er fand – gelungenen Witz.
    „Einen Haufen auf der Bühne hinmachen, das würde unsereiner schon aufgrund seiner guten Erziehung nie tun“, warf Herbert Gans ein.
    „Obwohl ich einmal in einem Stück mitspielen sollte, wo das vorgesehen war“, sagte Mühsal und wirkte ein wenig stolz.
    „Welches Stück?“, fragte Gans.
    „Goethe, ,Torquato Tasso‘“, antwortete Mühsal. „Als die Prinzessin zu ihm sagt, ,Erlaubt ist nur, was sich geziemt‘, verrichtet er vor ihr seine Notdurft, um sein Anderssein zu demonstrieren. Frei erfunden das mit der Notdurft, kommt, wie ihr alle wisst, bei Goethe überhaupt nicht vor.“
    „Hast

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