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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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alles gebührend, wir hatten es gern um uns, aber um die vielen kleinen Schlachten, die im Laufe des Wachstumsprozesses gewonnen oder verloren wurden, kümmerten wir uns nicht. Hatte sich jemand darüber Gedanken gemacht, was ohne Martha aus dem Garten werden sollte? Es war noch nicht einmal ein Jahr her, seit sie sich – zunächst geistig, dann auch körperlich – aus dem Leben zurückgezogen hatte, und es war noch nicht Frühling, aber schon jetzt wirkte alles vernachlässigt. Stöcke, an denen nichts festgebunden war, steckten in den Beeten, Löwenzahn überwucherte den Rasen, und überall lag welkes Laub.
    Das Haus war verschlossen, und ich hatte keinen Schlüssel. Ich hatte nie einen gebraucht. Als ich durch die Fenster spähte, sah ich leere Räume, kahle Borde, nackte Wände, auf deren Tapeten helle Rechtecke an abgenom-mene Bilder erinnerten.
    Das war nicht mehr unser Haus, und es bereitete mir eine bittere Genugtuung zu sehen, daß alles, was an die Martellos erinnerte, so radikal entfernt worden war. Stead stand zum Verkauf. Vielleicht würde schon bald jemand mit neuen Erinnerungen hier einziehen. Meine eigenen waren für mich noch überall spürbar, wie das raschelnde Laub, das der Wind von der kleinen Landstraße bis ans Ende der Auffahrt heraufgeweht hatte. Ich wandte mich ab. Die trostlose Grube, in der man Natalie gefunden hatte, war noch da, halbvoll mit morastigem Wasser. Warum schüttete sie denn niemand zu?
    Aber deshalb war ich nicht hergekommen. Ich hatte keine Zeit zu vergeuden, und es war auch niemand da, dem ich etwas hätte vorjammern können. Ich wollte die Sache möglichst schnell hinter mich bringen und mir das ansehen, worum es mir ging. Dann würde ich Stead für immer verlassen, mich mit Kim treffen, etwas Gutes essen, ein schönes Wochenende verbringen, nach London zurückfahren und endlich mein eigenes Leben beginnen.
    Mit schnellen Schritten überquerte ich den ungepflegten Rasen und fühlte, wie meine Zehen feucht wurden.
    Verdammt, ich hatte die falschen Schuhe angezogen.
    Schließlich erreichte ich den Waldrand. Zu meiner Linken sah ich die Pullam Farm, und zu meiner Rechten befand sich der Weg, der am Waldrand entlang und dann in einer Kurve wieder zu Stead führte. Doch heute wollte ich nicht diesen Weg einschlagen, sondern zum erstenmal nach fünfundzwanzig Jahren durch den Wald zu Cree’s Top und zum Ufer des Col gehen. Es war ein nebelver-hangener, feuchter Morgen, und ich fror in meinem Anorak. Aber es würde nicht lange dauern. Der Weg gabelte sich, als ich auf die Anhöhe zukam, hinter der sich der Fluß verbarg. Ich nahm die rechte Abzweigung, die mich um Cree’s Top herum zum Flußufer führen würde.
    Der Weg, von Gestrüpp überwuchert, wurde anscheinend kaum noch benutzt. Nachdem ich mich durch das Unterholz gekämpft hatte, erreichte ich nach kurzer Zeit das Flußufer und den Fuß von Cree’s Top. Ich war wieder da. Ein winziges Detail hatte alles ins Rollen gebracht, eine Kleinigkeit, die Alex’ Interesse geweckt hatte. War es nicht so gewesen? Diese albernen Teenager-Gedichte, die ich zusammengeknüllt und ins Wasser geworfen hatte, als ich, mit dem Rücken zu Cree’s Top, am Fluß gesessen und beobachtet hatte, wie sie von der Strömung davongetragen wurden. Ob wohl eins davon das Meer erreicht hatte?
    Oder waren sie allesamt nach der ersten Biegung im Schilf hängengeblieben? Ich kramte in meiner Anoraktasche und holte einen Werbezettel von einem indischen Restaurant heraus, das mir »Unglaublich niedrige Preise!« versprach.
    Ich knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Fluß.
    Und nun geschah etwas so Komisches, daß ich fast lachen mußte. Der Fluß floß in die falsche Richtung! Der zusammengeknüllte Werbezettel von »The Pride of Bengal« wurde nicht weggetragen und verschwand nicht hinter der Biegung des Flusses – nein, er schwamm direkt auf mich zu. Und tatsächlich, als ich flußaufwärts blickte, sah ich, daß es in dieser Richtung erst nach mehreren hundert Metern eine Biegung gab. Wie war das möglich?
    Einen Augenblick lang war ich völlig verwirrt, aber dann begriff ich plötzlich, was los war. Mit raschen Schritten erklomm ich Cree’s Top. Viele Bäume waren gefällt worden, und als ich oben angelangt war, hatte sich der Morgennebel gelichtet, und man konnte den Fluß und den Weg, der am Ufer entlangführte, klar erkennen. Der Col machte eine leichte Biegung nach rechts, bevor er seine ursprüngliche Richtung wieder aufnahm. Von hier

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