Der Glaspavillon
oben sah das wie ein umgedrehtes C aus. Fünfzig Meter entfernt befand sich die Brücke, von der Natalie zum letztenmal gesehen worden war.
Der Weg wurde mit einemmal sehr abschüssig, und ich mußte aufpassen, daß ich hangabwärts nicht zu schnell wurde. Als ich die Ebene erreichte, setzte ich mich, den Rücken gegen den breiten Felsen am Fuß von Cree’s Top gelehnt. Ich kramte wieder in meinen Anoraktaschen und förderte den Kreditkartenbeleg einer Tankstelle zutage.
Wenn ich ordentlicher wäre, hätte ich ihn natürlich schon längst am richtigen Platz abgeheftet. Ich knüllte ihn zusammen und warf ihn ins Wasser. Inzwischen hatte sich die Sonne hervorgewagt, und das hellblaue Papier auf den glitzernden Wellen war nur schwer zu erkennen, aber ich ließ es nicht aus den Augen. Es wurde schneller und verschwand schließlich hinter der grasbewachsenen Biegung. Wie ein Traum …
37. KAPITEL
Als Kinder spielten wir oft in der Nähe der Blutbuche mit dem dicken, grauen Stamm und den leuchtendbunten Blättern. Sie stand vor einer Steinmauer, und wenn man auf die Mauer stieg, waren die unteren Äste des Baums nah genug, daß man hinaufklettern konnte. Jetzt erschien er mir schwindelerregend hoch. Für alle anderen unsichtbar konnten wir durch die bronzefarbenen Blätter Stead und sein Portal sehen und beobachteten, wie die Erwachsenen kamen und gingen. Stundenlang blieben wir dort oben. Wir nahmen unsere Puppen mit, und, als wir älter waren, Bücher und Äpfel. Natalie und ich saßen und redeten, während das Licht durch die Blätter flirrte. Wir sahen den vorbeiziehenden Wolken nach, tauschten Geheimnisse aus, und die Tage zogen gemächlich vorüber.
Ich hatte fast vergessen, wie ausgeglichen und fröhlich Natalie sein konnte. Nach ihrem Verschwinden hatte ich mich ihr gegenüber nicht wie eine wirkliche Freundin verhalten. Wenn ich diejenige gewesen wäre, die ohne ein Wort der Erklärung gegangen wäre, hätte sie mich fieberhaft gesucht, das weiß ich. Sie hätte sich von mir im Stich gelassen gefühlt und sich wütend gegen die Beschwichtigungsversuche der Erwachsenen gewehrt. Sie hätte keine Ruhe gegeben. Ich dagegen hatte Nacht für Nacht passiv und traurig in dem Zimmer gelegen, das ihres gewesen war, hatte zwar immer von ihr geträumt, aber nie richtig nach ihr gesucht. Einmal, als Natalie und ich im Garten Verstecken spielten, konnte ich sie nirgends finden. Nachdem ich vergeblich hinter den dichten Büschen und in den Geräteschuppen gesucht hatte, marschierte ich in die Küche, wo Martha Plätzchen buk.
Gerade machte ich mich daran, die Schüssel auszulecken, da stürmte Natalie herein.
»Warum gibst du immer gleich auf?« brüllte sie mich an.
»Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit dir rumärgere, wenn du immer gleich aufgibst. Du gehst mir auf die Nerven, Jane Crane.«
Ich rieb mit dem Finger über die Rinde. Martha hatte diesen Baum auch sehr gemocht. Sie hatte Krokusse und Schneeglöckchen um ihn herum gepflanzt. Die Schneeglöckchen blühten schon, die weißen Köpfe neigten sich anmutig im kalten Wind. Helle Krokustriebe lugten aus dem Erdreich hervor. Ich setzte mich, und als ich mich an den Baumstamm lehnte, spürte ich die rauhe, alte Rinde durch meine Jacke. Mit Anfang Zwanzig hatte ich ein viermonatiges Architekturpraktikum in Florenz gemacht.
Ich hatte die Stadt geliebt und in meiner Freizeit die engen Gassen durchwandert oder dunkle, nach Weihrauch duftende Kirchen erkundet, wo Madonnenstatuen in Nischen standen und alte Frauen Kerzen für die Toten anzündeten.
Zehn Jahre später fuhr ich wieder dorthin. In meiner Erinnerung hatte ich die Stadt noch ganz klar vor Augen, doch schon bald mußte ich feststellen, daß irgend etwas nicht ganz stimmte. Die Straßen waren kürzer; wo ein Aussichtspunkt sein sollte, stand ein hohes Gebäude; das Café, in dem ich immer meinen Espresso getrunken und kleine Reiskuchen gegessen hatte, war von der Mitte des Platzes in eine Ecke gerückt. Claud hatte mich zu beruhigen versucht: Man müsse einen Ort eben immer wieder neu entdecken, und das Schöne am Reisen sei doch gerade, daß neue Eindrücke hinzukämen und alte sich änderten. Aber ich kam mir irgendwie betrogen vor: Ich wollte in eine unversehrte Vergangenheit zurückkehren, in der jede Stelle ihre Erinnerungen für mich bereithielt; aber statt dessen kam ich in eine Stadt, die mir auf rätselhafte Weise entglitten war.
Die gleiche, nicht erklärbare Unzufriedenheit plagte
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