Der Glaspavillon
mich auch jetzt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog ich den Reißverschluß meines Anoraks bis zum Kinn hoch, stand auf und kletterte auf den niedrigsten Ast des Baums. Mühsam arbeitete ich mich von Ast zu Ast vorwärts, bis ich einen Sitzplatz erreichte. Durch das Gewirr der mit winzigen Knospen übersäten Zweige blickte ich auf Stead. Da stand das Haus, das unsichtbare Spuren des Verfalls aufwies. Wenn sich rein äußerlich nichts ändert, woran erkennt man dann den Augenblick, in dem das Leben aus dem Gesicht eines Freundes schwindet, wie weiß man, daß ein Haus verlassen ist? Von meinem Platz aus konnte ich die Haustür nicht genau erkennen, obwohl ich mich ganz klar daran erinnerte, sie als Kind von hier gesehen zu haben. Ich kletterte wieder hinunter, sprang ungeschickt auf den Rasen und setzte mich ein zweites Mal mit dem Rücken an den Baum.
Ich zog mein altes Tagebuch hervor, das ich heute morgen noch aus der Reisetasche gekramt hatte, und blätterte auf gut Glück in den hinteren Seiten. Bei manchen Eintragungen kamen mir sofort Erinnerungen: Zum Beispiel die Geschichte mit der Kerze, die Alans Bart in Brand gesetzt hatte, als er sich gierig über den Tisch beugte, um sich die letzten Kartoffeln auf den Teller zu schaufeln. Ich hatte damals so lachen müssen, daß mir hinterher der Bauch weh tat. Oder als wir auf dem nahen Baggersee segeln gingen und ich furchtbare Angst bekam, weil das Boot sich schräg legte und Wasser hinein-schwappte, es aber natürlich nicht zugeben wollten – vor allem nicht vor Natalie und Theo, die sehr sportlich waren und es nicht ausstehen konnten, wenn jemand nicht so mutig war wie sie. Oder wie ich mit Alan und den Zwillingen um vier Uhr morgens aufgestanden war, um bei Tagesanbruch dem Vogelkonzert zu lauschen, und wie wir fröstelnd und hungrig, aber vollkommen begeistert zurückkehrten.
Doch es gab andere Eintragungen, die rein gar nichts bei mir auslösten: Ein Streit mit Mum, den ich mit schein-heiliger Einsichtslosigkeit beschrieb, oder der Besuch eines mittelalterlichen Herrensitzes, in dem sich während der Reformation Katholiken unter den Dielenbrettern versteckt hielten. Sie waren wie die vergessenen, von Efeu und Nesseln überwucherten Gräber auf dem Highgate Cemetery. Der größte Teil unseres Lebens ist eben verschüttet.
Der letzte Eintrag war mir allerdings immer im Gedächtnis geblieben – was nicht weiter verwunderlich war, denn der Tag vor Natalies Verschwinden war für mich sozusagen der sichtbare Rand rund um ein großes schwarzes Loch. Ohne Schwierigkeit konnte ich die Vorbereitungen aufzählen, die an jenem Tag für die Party getroffen worden waren; ich erinnerte mich daran, wie ich Theo auf der freien Stelle zwischen den frischen gemauerten Steinen für den Grill geküßt hatte, der rechtzeitig für die Party am nächsten Tag fertig werden mußte, und wie wir schuldbewußt aufsprangen, als wir Jim Weston kommen hörten.
Ich klappte das Tagebuch zu und rieb mir die Augen.
Regen tropfte auf den Umschlag. Ich hatte das Gefühl, etwas durch dichten Nebel zu betrachten; alle Umrisse waren verzerrt und verschwommen. Wie ich mit Theo dort stand, wo der Grill stehen würde, wie wir uns küßten. Der Grill.
Ich stand so hastig auf, daß ich beinahe gestolpert wäre, und rannte in dem stärker werdenden Regen dorthin, wo Natalies Überreste gefunden worden waren. Die Stelle war noch immer deutlich zu erkennen, ein hellerer Fleck mit aufgewühltem Lehm, Schutt und herausgerissenem Unkraut. Ich sprang in die Grube hinunter und fing planlos an, im Dreck zu graben. Das Bein einer Puppe kam zum Vorschein, eine rostige Gabel mit verklebten Zacken, eine Bierflasche mit zersplittertem Hals; dann förderte ich einen zerbrochenen Backstein zutage und Teile eines rostigen Grillgitters. Das waren die Überreste des Grills.
Natalie war darunter begraben gewesen.
Schwer atmend ließ ich mich am Rand der Grube nieder und wischte mir die schmutzigen Hände an meinen schmutzigen Jeans ab. Inzwischen fiel der Regen stetig und legte sich wie ein dunkler Vorhang vor Stead und all seine Geheimnisse. Irgend etwas war hier faul. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen; es war, als entglitte mir ein Traum immer wieder bei dem Versuch, mich an ihn zu erinnern. Natalie war unter dem Grill begraben worden.
Aber der Grill war gebaut worden, bevor sie starb!
Ich sagte laut: »Deshalb also wurde ihre Leiche hier begraben! Niemand wäre auf die Idee gekommen, hier zu
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