Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
verlegen in die Kamera und verschwand wieder aus dem Bild. Die Kamera schwenkte seitwärts und kam an der Stelle zum Stehen, wo man Natalies Leichnam gefunden hatte. Paul erzählte die Fakten. Dann wurden eine Reihe von Fotos eingeblendet, auf denen Natalie als Baby, als Kleinkind, als Zehnjährige, als Teenager, mit der Familie und allein zu sehen war, und schließlich ihr Grabstein.
    Als Claud im Bild erschien und ich ihn mit den Augen eines neutralen Zuschauers betrachtete, fiel mir auf, wie gut er aussah und wie ernst er wirkte. Angespannt wartete ich darauf, daß er über mich und über das Scheitern unserer Ehe sprechen würde. Doch er beschränkte sich darauf zu sagen, daß »die Dinge sich nicht so entwickelt hätten«, wie er gehofft habe. Ich war selbst entsetzt über die Woge von Schuldgefühl und Liebe, die mich bei seinen Worten erfaßte. Schnitt zu Robert und Jerome, die in Hampstead Heath Frisbee spielten. Wie jung und unbeschwert sie aussahen! Dann Jerome, der sich liebevoll darüber mokierte, wie besessen die ältere Generation von der Erinnerung an die Vergangenheit sei. Schnitt zu Fred und seiner Familie, wie sie bei sich zu Hause auf ihrer gepflegten Terrasse sitzen. Wieder Schnitt zu Alan, der –
    einen Brandy in der Hand – sich lang und breit über die Macht der Vergebung ausließ. Und dann noch Schnitt zu Theo, der eine Familie mit einem Computerprogramm verglich.

    Das war ja ich, wie ich mit hochrotem Gesicht in meiner Küche stand. O Gott, Weihnachten – aber das Weihnachten, das ich dort sah, während ich auf Kim wartete, war voll festlicher Ausgelassenheit; Gelächter dröhnte mir aus dem Fernseher entgegen; ich lächelte ständig und reichte den Wein herum. (Hatte ich an jenem Abend wirklich so oft gelächelt? Ich konnte mich gar nicht daran erinnern.) Erica und Kim sahen in ihren feuerroten und gelben Kleidern wie zwei extravagante Paradiesvögel aus. Dad wirkte wie ein distinguierter älterer Herr, und meine beiden Söhne verkörperten das Sinnbild der Jugend. Die Macht der Cutters – Bilder so aufzusplitten, daß sich das kollektive Trauma in ein Bild weinseliger Eintracht verwandelt.
    Ich rauchte die letzte Zigarette aus meinem Päckchen.
    Trotz meiner Abneigung gegen die Botschaft des Films, die durch Alans Geständnis zunichte gemacht worden war, berührte mich dieses melancholische Verhaftetsein in der Vergangenheit als Ort der Unschuld und der Freude, dem verlorenen Eden für jeden von uns. Die Musik, der grüne Winter in Shropshire, die Gesichter, die auf dem Bildschirm erschienen und wieder verschwanden und mir so vertraut waren wie mein eigenes. Paul war es gelungen, daß auch diejenigen, die bei diesem Projekt nur wider-strebend mitgewirkt hatten, während des Interviews mit einer Art innerer Beteiligung sprachen, als würden sie im Gespräch Erkenntnisse über sich selbst erlangen. All dies erfüllte mich mit tiefer Trauer.
    Der Film war fast zu Ende. Paul ging, die Hände in den Taschen vergraben, am Col entlang. Der Pegel des braunen Wassers war nach den letzten Regenfällen stark angestiegen. Paul blieb stehen, drehte sich zur Kamera und streckte seine Hände dem Betrachter entgegen. O Gott, er rezitierte noch einmal aus einem Gedicht: Verlor’nes Land der Zuversicht,
    Erinn’rung, strahlend klar.
    Der Weg des Glücks, wie es einst war –
    Doch Rückkehr gibt es nicht.

    Ich war verwirrt. Wollte uns dieser Dokumentarfilm nun sagen, daß man wieder nach Hause gehen konnte oder daß man es nicht konnte? Doch Paul sprach weiter. »Familie«, sagte er. »Alan Martello nannte sie Plage und Frieden.
    Jane Martello, meine Schwester, meinte, daß die Menschen hier ihre besten, aber auch ihre schlechtesten Seiten offenbaren.« (Ach, du lieber Himmel!)

    »Für Erica, meine Frau, ist sie sowohl ein Hafen als auch ein Gefängnis – wir können immer wieder in den Schoß der Familie zurückkehren, aber ganz gleich, wie weit wir sie auch hinter uns lassen, entkommen können wir ihr niemals.« (Aus welchem Weihnachts-Knallbonbon hatte sie denn diesen Spruch?) Paul lächelte mit der Weisheit des Alters und schritt davon, in die letzte Sequenz, die ich bereits gesehen hatte: Großaufnahme von dem Haus und dem Fundort der Leiche.
    Ich schaltete den Fernseher aus und beschloß, ihn endlich zu verkaufen. Ach, vielleicht würde netterweise ein Cracksüchtiger einbrechen und ihn stehlen, während ich mit Kim weg war. Es war fast halb sechs. Ich machte die Reisetasche zu, doch dann

Weitere Kostenlose Bücher