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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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nicht meckern.« Sie lächelte mich wehmütig an. »Ich hatte mir schon mein Abendessen ausgemalt: Muscheln und Thunfisch in Zitronenmarinade, gefolgt von Lammbraten. Und zum Nachtisch einen Apfelstrudel mit Sahne.«
    »Ich werde ein paar Sandwiches für unterwegs besorgen«, sagte ich. »Vollkornbrot mit Käse und Salat und hinterher einen Apfel.«
    »Na, toll.«

    Es war noch nicht ganz sechs Uhr abends, als wir den Gasthof mit Sack und Pack verließen. Ich bestand darauf, die zweite Übernachtung, die wir nicht in Anspruch genommen hatten, zu bezahlen, und entschuldigte mich bei dem Besitzer für unsere überraschende Abreise.
    »Die denken wahrscheinlich, es handelt sich um eine kleine Meinungsverschiedenheit unter Liebenden«, mutmaßte Kim.
    »Ach, sie werden glauben, wir sind die typischen Schönwetterwanderer aus London, die vor dem Regen flüchten.«
    Und es regnete noch immer, als wir an diesem scheußlichen Februarabend aufbrachen. Die Scheibenwischer fegten das Wasser beiseite, und Kim legte eine Kassette ein. Schräge, jazzige Saxophonklänge erfüllten das Wageninnere und übertönten den prasselnden Regen.
    Während der Fahrt sagten wir beide kein Wort, aber unser Schweigen hatte nichts Unbehagliches. Allmählich ließ der Regen nach, doch es waren noch genügend Pfützen auf der Straße, und jedesmal, wenn ein Lkw an uns vorbeidonnerte, mußte Kim die Scheibenwischer wieder einschalten.
    Erschöpft lehnte ich mich zurück und betrachtete die Landschaft, die an uns vorüberzog. In der Scheibe konnte ich undeutlich und verschwommen mein Gesicht erkennen. Ich hätte es dort nicht länger ausgehalten, aber warum ich zurückfuhr, konnte ich eigentlich auch nicht sagen.
    Was sollte ich jetzt bloß tun? Mein Leben war in eine Sackgasse geraten. Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich mich wieder in Alex’ Behandlung begab und versuchte, mir über die schrecklichen Widersprüche Klarheit zu verschaffen, die mich nicht mehr losließen. Mit Alex’
    Hilfe war es mir gelungen, einen grauenerregenden Abschnitt meiner Vergangenheit zu erhellen, aber alles andere lag noch im dunkeln. Vielleicht mußte ich auch Licht in diese Dinge bringen. Beim bloßen Gedanken daran fühlte ich mich bereits unaussprechlich erschöpft.
    Jeder Knochen tat mir weh. Als ich diese Reise zurück in meine Kindheit begonnen hatte, hatte ich immer von einem schwarzen Loch in meiner Vergangenheit gesprochen. Doch jetzt schien es, als hätte sich dieses Bild – wie das Negativ einer Fotografie – umgekehrt. Das einzige, was für mich jetzt sichtbar, verwirrend sichtbar war, war der Teil, der bis dahin im dunkeln gelegen hatte.
    Aufgewühlte Erde, in der ein toter Teenager lag.
    »Könntest du kurz das Licht anmachen? Ich will eine andere Kassette einlegen«, meinte Kim und kramte in der Ablage, in der ein heilloses Durcheinander herrschte.
    »Klar.« Ich blinzelte in das Licht, und die Welt außerhalb des Wagens war ausgeblendet. »Weißt du, Kim, ich habe das Gefühl, alles ist auf den Kopf gestellt. Als ich heute morgen den Hügel hinaufging, kam ich mir vor wie Alice bei ihrer Reise hinter den Spiegeln, als sie in dem Garten spazierengeht, in dem alles umgekehrt ist. Wenn man zu einem bestimmten Punkt will, darf man nicht auf ihn zu-, sondern muß von ihm weggehen. Merkwürdig, nicht wahr?«
    Erstaunt stellte ich fest, daß mir die Tränen kamen. Ich mußte blinzeln und blickte auf die Scheibe. Eine Frau mittleren Alters, deren schmales Gesicht kummervoll aussah, starrte zurück, gefangen in ihrer Welt auf der anderen Seite der Scheibe. Wir sahen einander aus weit auf gerissenen Augen erschreckt an. Sie war mir nicht fremd; wir kannten uns ziemlich gut, doch vielleicht nicht gut genug. Ein Blitz durchzuckte mein Gehirn. O nein, lieber Gott, bitte nicht! Was hatte ich getan?
    Ich griff hastig nach oben und knipste das Licht aus. Der silberhelle, betörende Klang einer Flöte schwebte durch den Raum. Das Gesicht der Frau war verschwunden. Ich hatte mich selbst gesehen. Natürlich. Ich war das Mädchen auf der Anhöhe, war für eine Stunde Natalie; ich hatte mich selbst auf der Anhöhe gesehen, war mir auf der Fährte gewesen. Ich hatte mich in dem Garten hinter den Spiegeln befunden und war meinem eigenen Bild gefolgt, und als ich mich selbst gefunden hatte, hatte ich mich auf ganz schreckliche Weise verloren. Auf ganz schreckliche Weise. Ich fühlte, wie ein Schrei aus meiner Kehle aufstieg, und hielt mir den Mund zu. Es war gar nicht

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