Der Glaspavillon
Scott. Eigentlich sind es sogar zwei Fragen. Kann es sein, daß jemand ein Verbrechen bekennt, das er gar nicht begangen hat? Und, wenn ja, weshalb sollte jemand so etwas tun?«
»Darüber muß ich einen Augenblick nachdenken«, sagte Dr. Scott. »Eine knifflige Frage. Warum möchten Sie das ausgerechnet von mir wissen?«
»Weil ich mich frage, ob es möglich ist, daß sich eine Erinnerung später als falsch herausstellt? Ich meine, eine klare, detaillierte visuelle Erinnerung.« Dr. Scott setzte zu einer Antwort an, aber ich ließ sie noch nicht zu Wort kommen. »Ich hatte das Gefühl, nach einer Computerdatei zu suchen, die ich aus Versehen gelöscht hatte. Wenn man die dann wiederfindet, zweifelt man doch nicht daran, daß es tatsächlich die gelöschte Version ist, oder?«
Inzwischen hatte Dr. Scott am Tisch Platz genommen; die Teller mit den kleinen Speisen standen aufgereiht vor ihr. Sie hatte eben von einem Sandwich abgebissen und mußte erst einmal energisch kauen und schlucken, bevor sie antworten konnte.
»Nennen Sie mich doch Thelma. Übrigens ist dieser Name ein Beispiel für Irritationen bei der Übermittlung von Informationen. Er stammt aus einem Roman von Marie Corelli, geschrieben in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Heldin, eine Norwegerin, heißt so. Auf einer Konferenz im norwegischen Bergen begann ich deshalb meine Ansprache mit der Bemerkung, meine Anwesenheit sei doch sehr angemessen, weil ich einen norwegischen Namen habe und so weiter und so fort. Aber danach kam ein Mann zu mir und erklärte mir, daß Thelma überhaupt kein norwegischer Name sei. Corelli muß da irgend etwas mißverstanden haben. Oder sie hat es einfach erfunden.«
»Ihr Name ist also ein Irrtum?«
»Ja, alle Frauen mit Namen Thelma müßten eigentlich neu getauft werden und einen richtigen Namen bekommen.« Sie lachte. »Aber es ist ja auch gleichgültig, solange man das mit der kulturellen Tradition nicht zu eng sieht.
Ihr Vergleich mit der Computerdatei ist sehr interessant.
Nicht mal die Neurologen haben ein akkurates Modell von den Funktionen des menschlichen Gedächtnisses, deshalb steht es jedem frei, eigene Befehlsmodelle zu entwickeln.
Manchmal kann das Gedächtnis wie ein Speichersystem funktionieren. Ein ganzer Teil kann verlorengehen, beispielsweise alles, was mit einer alten Schulklasse zu tun hat. Dann begegnet man zufällig einem ehemaligen Klassenkameraden, der ein bißchen von früher erzählt, und plötzlich kommen eine ganze Menge Erinnerungen zurück, von denen man gar nichts mehr wußte und über die der Klassenkamerad auch nicht geredet hat.
Problematisch wird es, wenn man die eigenen Behelfs-modelle mit der Realität verwechselt. Dann nämlich kann einen der Vergleich mit dem Speichersystem zu der Annahme verleiten, daß alles, was man je erlebt hat, jederzeit erinnert und neu durchlebt werden kann –
vorausgesetzt, man entdeckt den richtigen Schlüsselreiz.
Aber ich würde manche Erinnerungen eher mit einer Sandburg am Strand vergleichen. Wenn das Meer sie einmal überschwemmt und weggewaschen hat, kann man sie nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form wiederauf-bauen, nicht mal theoretisch. Ist das alles, worüber Sie mit mir sprechen wollten?«
»Natürlich nicht. Ich bin verzweifelt und weiß nicht mehr, an wen ich mich wenden soll.«
»Warum sprechen Sie nicht mit Alex Dermot-Brown?«
»Ich glaube nicht, daß Alex für das, was ich sagen möchte, ein offenes Ohr hat.«
»Und jetzt glauben Sie, ich bin Alex nicht wohlgesonnen und nehme Ihnen deshalb Ihre Geschichte ab«, meinte Thelma und goß sich ein drittes (oder war es schon ihr viertes?) Glas Wein ein.
»Sehen Sie, auf der Konferenz, bei der wir uns begegnet sind, habe ich auch ein paar sehr nette Frauen kennengelernt, die schreckliche Dinge erlebt haben. Diese Frauen haben mir versprochen, mich zu unterstützen, mir Glauben zu schenken und mich nicht in Frage zu stellen. Jetzt stehe ich am Rand eines Abgrunds, aber ich möchte gar keine Unterstützung. Ich will nicht, daß man mir glaubt, wenn ich unrecht habe. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Noch nicht ganz, aber reden Sie ruhig weiter.«
»Ich würde Ihnen gern die wichtigsten Punkte erklären.
Der letzte Zeuge, der Natalie lebend gesehen hat, sagt, es war am Sonntag, dem 27. Juli, an einem Fluß in der Nähe des Herrenhauses. Meine Gedächtnisarbeit mit Alex beruhte auf der Annahme, daß ich ganz in der Nähe der Stelle war, an der zur gleichen Zeit
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