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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Kreditkarte zahlte. Alle Gedanken an Natalie verbannte ich aus dem Kopf. Schließlich war es mein Wochenende.
    Abends machte ich mir einen Reissalat und trank dazu den Rest der Flasche Rotwein, die ich vor nicht allzu-langer Zeit geöffnet hatte. Dann holte ich eine Schachtel vom Speicher, zündete eine Kerze an und schmökerte in den Liebesbriefen, die Claud mir geschrieben hatte. Fast alle stammten aus dem Jahr vor unserer Heirat und dem Jahr danach. Ansonsten gab es nur noch gelegentlich eine Postkarte von irgendeiner Konferenz:
    »Vermisse dich.« Wahrscheinlich war das nicht mal gelogen.
    Alle Briefe waren in einer makellosen Handschrift verfaßt; auf manchen war die Tinte allerdings schon etwas verblichen.
    »Meine süße Jane«, schrieb er, »Du warst wunderschön in Deinem blauen Kleid.«
    »Mein Liebling, ich wünschte, Du wärst heute nacht bei mir.« Der früheste Brief stammte vom September 1970 –
    ein paar Monate nach Natalies Verschwinden. Seltsam, daß ich ihn vergessen hatte: Es war ein netter, vernünftiger Brief darüber, wie die Familie zusammenhielt. »Sie wird wieder heimkommen«, hatte Claud geschrieben, »aber natürlich wird nichts je wieder so sein wie früher. Der erste Teil unseres Lebens ist vorüber.« Er hatte recht.
    Seltsam, daß er in diesen wenigen Zeilen mehr über Natalie gesagt hatte als jemals später. Ich dachte an ihn in seiner aufgeräumten Wohnung, mit den Kunstbänden über alte Kirchen und der alphabetisch geordneten Korrespon-denz. Ob er immer noch hoffte, daß ich es mir anders überlegen würde? Wäre er in diesem Augenblick, am Abend vor meinem Rendezvous mit Caspar, zur Tür hereingekommen, ich glaube, ich hätte ihn nicht abge-wiesen. Abschiednehmen war noch nie meine Stärke.

    Er war pünktlich an Ort und Stelle, allerdings mit Fanny.
    Ihre wilden Locken umrahmten ihr von der Kälte gerötetes Gesicht; sie trug Jeans, die für ihren schmalen kleinen Körper mindestens zwei Nummern zu groß waren. Als erstes öffnete sie ihre behandschuhte Faust und zeigte mir die Steine, die sie während des Wartens gesammelt hatte.
    Daher stammten auch die Schmutzflecken auf ihren Wangen.
    »Fannys Freundin, bei der sie heute eigentlich den Tag verbringen wollte, ist leider krank geworden«, erklärte Caspar.
    »Ich freue mich, deine Tochter wiederzusehen«, log ich.
    »Komm mit, Fanny, da hinten ist ein Obelisk mit einer Hundeschnauze. Der Hund hieß Emperor.«
    »Was ist ein Obelisk?«
    »Eine Arte spitze Säule.«
    Wir spazierten den kiesbestreuten Hauptweg entlang; man mußte aufpassen, daß man sich nicht in den Brombeerranken verfing.
    »Ist dir schon aufgefallen«, fragte Caspar, »wie viele Kinder hier begraben sind? Hier zum Beispiel, der kleine Samuel, fünf Jahre alt, und da drüben, ein elfmonatiges Baby.« An einem Familiengrab machten wir halt: fünf Namen, alles Kinder unter zehn Jahren. Fanny drehte Pirouetten auf einem sonnenbeschienenen Fleck. Auf manchen besonders gepflegten Gräbern standen Blumen, aber die meisten waren mit Nesseln und Efeu überwach-sen, Moos wucherte auf den Grabsteinen und machte die Inschriften zum Teil unleserlich.
    »Sieh dir mal das hier an«, sagte ich. Ein paar Meter entfernt stand ein kopfloser Engel Wache über einer bewachsenen Steinplatte. »Wir haben verlernt zu trauern, stimmt’s? Wir wissen nicht mehr, wie man jemanden im Gedächtnis behält. Ich hätte gern ein solches Denkmal.
    Aber die Leute würden sagen, das ist kitschig – oder morbid.«
    Caspar lächelte. »Morbid? Was soll daran morbid sein, wenn man mit vierzig sein Grabmonument plant? Ein solcher Gedanke wäre mir nie gekommen.«
    »Ich bin zweiundvierzig. Sieh mal hier.«
    Vier verträumte präraffaelitische Köpfe, trauernd in einem steinernen Kreis.
    »Wo sind die Tiere begraben, Jane?« Fanny kehrte von einem Ausflug durch eine Reihe verfallener Grabsteine zurück.
    Ich deutete den Pfad entlang. »Dort drüben. Noch ein Stück weiter.«
    Und schon war sie fort, daß die Schalfransen nur so hinter ihr herflatterten.
    »Komm hierher, Jane.«
    Ich bahnte mir einen Weg durchs Dickicht, wo Caspar auf mich wartete. Ich ging langsam. Einen schöneren Moment als diesen würde ich wahrscheinlich nie erleben.
    Dicht vor ihm blieb ich stehen, und wir sahen uns an.
    »Plain Jane Crane«, sagte er. Mit dem Zeigefinger zeichnete er sanft meine Lippen nach. Vorsichtig, als wäre ich kostbar und zerbrechlich, legte er die Hand um meinen Hinterkopf. Ich zog die Handschuhe aus,

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