Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
erschien ihr die Erde, von solcher Höhe aus gesehen.
38. Taub
Am nächsten Morgen bemerkte sie beim Erwachen, daß sie geschlafen habe. Sie erstaunte, denn schon lange hatte sie sich des Schlafes entwöhnt. Ein heiterer Sonnenstrahl fiel durch die Luke auf ihr Gesicht. Zugleich aber mit dem Sonnenschein bemerkte sie an der Luke eine Erscheinung, über die sie erschrak, Quasimodos unglückliche Gestalt. Unwillkürlich schloß sie die Augen, aber dies war vergeblich; durch ihre rosigen Lider wähnte sie stets die zahnlückige, einäugige Gnomenmaske zu erblicken. Da vernahm sie, indem sie noch immer die Augen schloß, eine rauhe Stimme, die mit sehr sanftem Ausdruck sprach: „Fürchtet Euch nicht, ich bin Euer Freund; ich kam, Euch schlafen zu sehen. Nicht wahr, das kränkt Euch nicht? Es ist Euch gewiß nicht widerlich, wenn ich Euch schlafen sehe? Ihr schließt ja dann die Augen. Jetzt gehe ich. Seht, ich stehe hinter der Mauer. Ihr könnt die Augen wieder aufschlagen.“
In dem Tone, womit diese Worte ausgesprochen wurden, lag eine noch tiefere Klage. Gerührt öffnete die Zigeunerin ihre Augen; er war wirklich von der Luke verschwunden. Sie trat heran und sah, wie der arme Bucklige in einer Ecke der Mauer voll Schmerz und in sein Schicksal ergeben kauerte. Mit Gewalt überwand sie den Abscheu, den er ihr einflößte. „Kommt“, sprach sie sanft. Quasimodo glaubte, als sie ihre Lippen bewegte, sie wollte ihn fortjagen, stand auf, entfernte sich langsam hinkend, mit gesenktem Haupt, und wagte seinen Blick voll Verzweiflung nicht einmal zu der Zigeunerin aufzuschlagen. „Kommt“, rief sie lauter; aber er fuhr fort, sich zu entfernen. Da stürzte sie aus der Zelle, lief auf ihn zu und faßte ihn beim Arme. Quasimodo zitterte an allen Gliedern, wie er ihre Berührung fühlte. Er schlug sein bittendes Auge auf, und da er sah, daß sie ihn zu sich zurückführte, strahlte sein Antlitz von Freude und Zärtlichkeit. Sie wollte ihn in ihre Zelle führen, allein er blieb auf der Schwelle stehen. „Nein, nein“, sprach er, „der Uhu darf nicht in das Nest der Lerche.“
Dann setzte sie sich anmutig auf ihr Lager. Die Ziege schlief zu ihren Füßen. Beide blieben einen Augenblick unbeweglich und betrachteten schweigend, er so viel Schönheit, sie so große Entstellung. Mit jedem Augenblick entdeckte sie an Quasimodo eine neue Mißgestaltung. Ihr Blick stieg von den gebogenen Knien zum buckligen Rücken, vom buckligen Rücken zum einzigen Auge. Sie konnte kaum glauben, daß solche Mißgestalt wirklich lebte. Über diese war aber so viel Schmerz und Sanftmut verbreitet, daß sie anfing, sich daran zu gewöhnen.
Er brach zuerst das Schweigen. „Ihr sagtet mir also, ich sollte zu Euch kommen?“ Sie winkte mit dem Kopfe und sprach: „Ja.“ Er verstand das Zeichen. „Ach“, sprach er, als trage er Bedenken, alles zu sagen, „ich bin … ich bin taub.“ – „Armer Mann!“ rief die Zigeunerin mit dem Ausdruck des wohlwollenden Mitleids. Er lächelte schmerzlich. „Nicht wahr, Ihr sagtet, das fehlte mir nur noch? Ja, ich bin taub. So bin ich geschaffen. Nicht wahr, wie furchtbar! Und Ihr seid so schön.“ In dem Ton des Unglücklichen lag ein so tiefes Gefühl seines Elends, daß sie alle Kraft verlor, noch ein Wort zu sprechen. Er hätte es auch nicht gehört. Er fuhr fort:
„Noch nie habe ich meine Mißgestalt wie jetzt gefühlt. Vergleiche ich mich mit Euch, fühle ich Mitleid mit mir, dem armen Wechselbalg. Ja, ja, das bin ich! Nicht wahr, auf Euch mach ich einen Eindruck wie ein Tier. Ihr seid ein Sonnenstrahl, ein Tropfen Tau, ein Vogellied! – Ich bin ein Scheusal, weder Mensch noch Tier, noch etwas Härteres, mit Füßen getreten, häßlicher als ein Kieselstein.“
Er lachte laut, und sein Lachen war herzzerreißend. Dann fuhr er fort: „Ja ich bin taub, aber Ihr könnt mit mir in Zeichen sprechen. Mein Herr spricht so mit mir. Auch ahne ich Euren Willen an Eurem Blick, an der Bewegung Eurer Lippen.“ – „Nun“, fragte sie lächelnd, „warum habt Ihr mich denn gerettet?“
Er schaute ihr, während sie so sprach, mit Aufmerksamkeit ins Gesicht. „Ich verstehe Euch“, erwiderte er; „Ihr wollt wissen, weshalb ich Euch rettete. Ihr habt den Elenden vergessen, der Euch einst in einer Nacht zu entführen suchte, und dem Ihr selbst am folgenden Tage an jenem schändlichen Schandpfahl Hilfe brachtet. Für den Tropfen Wasser und für das wenige Mitleid will ich Euch mit meinem Leben vergelten.
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