Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
entführt. Sie wagte ihn nicht anzuschauen und ließ sich forttragen.
    Als aber der Glöckner, keuchend und mit zerzausten Haaren, sie in der Zelle der Freistatt niedergelegt hatte, als sie empfand, wie seine groben Hände sanft den Strick lösten, der ihren Arm verwundete, empfand sie einen solchen Stoß, wie schlafende Reisende auf einem Schiff in dunkler Nacht plötzlich erweckt werden, wenn jenes ans Ufer stößt. Auch ihre Gedanken erwachten und kehrten allmählich wieder. Sie sah, wo sie war, erinnerte sich, den Händen des Henkers entrissen zu sein, Phoebus lebe und liebe sie nicht mehr; beide Gedanken, wobei der eine zu viel Bitterkeit über den andern ausgoß, drängten sich zusammen der Verurteilten auf: Sie wandte sich zu Quasimodo, der vor ihr stand, und vor dem sie sich scheute, mit den Worten: „Warum habt Ihr mich gerettet?“
    Er betrachtete sie mit ängstlichem Blick, als suche er zu erraten, was sie ihm sagte. Sie wiederholte die Frage; da warf er ihr einen Blick des tiefsten Schmerzes zu und entfloh. Sie erstaunte. Nach einigen Augenblicken kehrte er mit einem Bündel zurück und warf ihr dies hin. Es waren Kleider, welche von barmherzigen Frauen für sie auf der Schwelle der Kirche niedergelegt waren. Sie senkte die Augen, sah sich fast nackt und errötete. Das Leben kehrte zu ihr zurück. Quasimodo schien etwas von dieser Scham zu empfinden. Mit seiner breiten Hand bedeckte er die Augen und entfernte sich, aber diesmal mit langsamen Schritten.
    Schnell legte sie die Kleider an. Diese bestanden aus einem Novizengewand des Hotel-Dieu: einem weißen Anzug mit dem weißen Schleier. Kaum war sie hiermit fertig, als Quasimodo wieder hereintrat. Unter dem einen Arm trug er einen Korb, und unter dem andern eine Matraze. Im Korbe lag eine Weinflasche, einige Nahrungsmittel mit Brot. Er stellte den Korb auf den Boden und sprach: „Eßt!“ – Er breitete die Matraze aus und sprach: „Schlaft!“ – Der Glöckner hatte ihr sein eigenes Mahl und sein eigenes Bett gebracht. Die Zigeunerin schlug die Augen auf, ihm zu danken, konnte aber kein Wort hervorbringen. Der arme Teufel hatte wirklich ein furchtbares Äußeres. Sie senkte den Kopf mit einem Zittern des Schauders.
    Da sagte er: „Ich erwecke Euch Furcht, nicht wahr? Ich bin sehr häßlich. Schaut mich nicht an, hört nur, was ich sage. Am Tage müßt Ihr hier bleiben, des Nachts könnt Ihr in der Kirche umherwandeln. Verlaßt sie aber nie, sonst würde man Euch töten und ich müßte sterben.“
    Gerührt erhob sie das Haupt, ihm zu antworten; er war verschwunden. Sie war allein und versank, erstaunt über die rauhe und doch so sanfte Stimme, in Nachsinnen über die sonderbaren Worte des fast unmenschlich gebildeten Wesens. Dann untersuchte sie ihre Zelle. Diese war ein Kämmerchen von ungefähr sechs Quadratfuß mit einer Luke und einer Tür in der leicht sich neigenden Fläche des Dachs von Steinplatten. Mehrere Rinnen mit Tiergestalten schienen sich zur Zelle zu neigen und den Hals auszustrecken, um in die Luke zu sehen. Am Rande des Dachs erblickte sie die Spitzen von tausend Schornsteinen, welche den Rauch aller Feuer von Paris bis zu ihren Augen emportrugen. Welch ein trauriges Schauspiel für eine arme Zigeunerin, ein Findelkind, ein unglückliches, zum Tode verurteiltes Geschöpf ohne Vaterland, Familie und Herd! Im Augenblick, wo der Gedanke ihres verlassenen und vereinsamten Zustandes quälender als je erschien, fühlte sie, wie ein zottiger und bärtiger Kopf zwischen ihre Hände und unter ihre Knie schlüpfte. Sie zitterte, denn jetzt erschrak sie über alles, und blickte hin. Es war die arme Ziege, die behende Djali, die in dem Augenblick entwischt war, wo Quasimodo Charmolues Brigade zerstreute. Schon beinahe eine Stunde lang lag sie liebkosend auf den Füßen ihrer Gebieterin, ohne nur einen Blick von ihr zu erhaschen. Die Zigeunerin bedeckte sie aber jetzt mit Küssen. „Oh Djali“, sprach sie, „wie hatt’ ich dich vergessen! Du denkst noch immer an mich! Du bist nicht undankbar!“ – Als ob eine unsichtbare Hand die Last abgenommen, die so lange ihr Herz erdrückte, begann sie darauf zu weinen und empfand, je mehr ihre Tränen flossen, das Bittere und Nagende ihres Schmerzes entschwinde immer mehr und mehr.
    Als der Abend anbrach, schien ihr die Nacht so schön, die Strahlen des Mondes so sanft zu sein, daß sie die hohe Galerie umwandelte, welche die Kirche umgibt. Sie fand einige Erleichterung ihres Kummers, so ruhig

Weitere Kostenlose Bücher