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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Turmes, in dem sein Laboratorium war, bei sich. Er schloß die Kirche auf.
    Dort fand er das Dunkel und das Schweigen einer Höhle. Im dichten Schatten sah er jedoch, daß die Gewänder der Zeremonie des Morgens noch nicht entfernt waren. Das große silberne Kreuz schimmerte noch auf dem schwarzen Tuch, gleich der Milchstraße am Nachthimmel, die langen Fenster des Chores zeigten über dem schwarzen Gewande die oberste Spitze ihrer Bogenfenster, deren Gläser, von einem Mondstrahl durchdrungen, nur die zweifelhaften Farben der Nacht in einer Art Violett, Weiß und Blau zeigten, die man sonst nur auf Leichengesichtern bemerkt. Der Archidiakonus, als er ringsum die bleichen Spitzen der Bogenfenster schaute, wähnte die Mitren der zur Hölle verdammten Bischöfe zu erblicken. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, schien es ihm, als beschaue ihn ein Kreis blasser Gesichter. Er floh durch die Kathedrale. Da schien es ihm, als bewege und belebe sich, als schwanke die Kirche, jede Säule schlage wie mit Klauen in den steinernen Grund, die gigantische Kathedrale werde zum wunderbaren Elefanten, der mit seinen Pfeilern wie mit Füßen wandle, die Türme wie den Rüssel ausstrecke, und dem das große schwarze Tuch zur Decke diene. Das Fieber oder der Wahnsinn war auf solche Höhe gestiegen, daß die ganze äußere Welt dem Unglücklichen nur zur sichtbaren, furchtbaren, berührbaren Apokalypse wurde. Für einen Augenblick fühlte er Erleichterung. Als er unter die Seitensäulen trat, bemerkte er hinter Pfeilern ein rötliches Licht. Er eilte darauf zu, als wär’s ein Stern. Es war eine ärmliche Lampe, die Tag und Nacht das öffentliche Breviarium von Notre-Dame hinter ehernem Gitter erleuchtete. Begierig stürzte er auf das heilige Buch zu; denn er hoffte, in ihm Trost und Ermutigung zu finden. Das Buch war bei einer Stelle Hiobs aufgeschlagen, die sein starrer Blick durchlief: „Ein Geist fuhr an meinem Antlitz vorüber, ich hörte seinen Hauch, und mein Haar sträubte sich empor.“
    Als er die düsteren Worte las, empfand er das Gefühl eines Blinden, der Stacheln an dem Stabe fühlt, den er aufnahm. Seine Knie wankten, er sank aufs Pflaster und dachte an die, die an dem Tage gestorben war. Er fühlte, wie soviel ungeheure Dünste durch sein Gehirn zogen, daß sein Kopf ihm ein Schornstein der Hölle zu werden schien. Wahrscheinlich blieb er lange in dieser Lage unfähig zu denken und unter der Hand des Teufels gleichsam versunken. Endlich raffte er einige Kräfte zusammen und faßte den Gedanken, zu seinem treuen Quasimodo in den Turm zu fliehen. Er stand auf, und da er Furcht empfand, nahm er, um sich auf dem Wege zu leuchten, die Lampe des Breviariums. Dies galt für Schändung des Heiligtums; doch er kümmerte sich jetzt nicht um solche Kleinigkeit. Langsam, voll geheimen Schauders, der sogar die wenigen auf dem Vorplatz Vorüberwandelnden ergriff, als sie das geheimnisvolle Licht von Luke zu Luke im Turm emporsteigen sahen, wandelte er die Treppe hinauf.
    Plötzlich empfand er die Frische des Luftzugs auf seinem Gesicht und stand unter dem Tore der höchsten Galerie. Die Luft war kalt, an dem Himmel zogen Wolken vorüber, deren breite, weißliche Streifen übereinander herfuhren und an den Winkeln sich stießen, so daß sie dem Eisgang eines Flusses im Winter glichen. Die Mondscheibe, in der Mitte der Wolken gleichsam strandend, schien ein Schiff des Himmels unter Schollen der Luft. Er senkte den Blick, beschaute einen Augenblick durch das Gitter von Säulchen, das beide Türme vereint, durch einen Flor von Nebel und Rauch die schwelgende Masse der spitzen, zahlreichen Dächer von Paris, wie sie gedrängt und klein dem sanftwogenden Meer einer Sommernacht glichen. Der Mond warf schwache Strahlen darüber hin, so daß Himmel und Erde eine Aschenfärbung erlangten.
    In dem Augenblicke ertönte die schrille Stimme der Glocke. Sie schlug zwölf. Der Priester dachte an zwölf Uhr mittags. „Oh“, sprach er leise, „jetzt wird sie schon kalt sein!“
    Plötzlich löschte ein Windstoß seine Lampe, und zugleich sah er an der entgegengesetzten Seite der Galerie eine weiße weibliche Erscheinung. Er zitterte. Neben dem Mädchen stand eine kleine Ziege, die ihr Meckern mit dem letzten Schlage der Turmuhr mischte. Er besaß noch Kraft hinzuschauen. Sie war es; blaß und düster; ihr Haar umflog, wie am Morgen, ihre Schultern. Doch um den Hals war kein Strick geschlungen, ihre Hände waren frei; sie schien

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