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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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ihm frei und tot. Ihr Kleid war weiß, und ein weißer Schleier floß von ihrem Haupte herab.
    Langsam, den Blick zum Himmel gewandt, ging sie auf ihn zu. Ihr folgte die wunderbare Ziege. Er fühlte sich versteinert, so daß es ihm unmöglich war, zu fliehen. Bei jedem ihrer Schritte, mit dem sie vorwärts trat, trat er einen Schritt zurück. So kam er in das dunkle Gewölbe der Treppe. Er erstarrte bei dem Gedanken, auch sie werde ihm hierher folgen; hätte sie dies getan, wäre er vor Schrecken gestorben. Wirklich trat sie zur Tür der Treppe, sie weilte dort einen Augenblick, blickte starr ins Dunkel, doch, wie es schien, ohne den Priester zu sehen, und ging vorüber. Sie schien ihm größer als zu ihren Lebzeiten; durch ihr weißes Kleid erblickte er den Mond: Er hörte ihren Atem.
    Als sie vorüber war, stieg er mit der Langsamkeit, die er bei dem Gespenst gesehen, die Treppe hinab; seine Haare sträubten sich; die erloschene Lampe hielt er in der Hand. Und wie er die Wendeltreppe hinabwandelte, vernahm er deutlich eine höhnende Stimme, die ihm zuflüsterte: „Ein Geist zog vor meinem Antlitz vorüber, ich vernahm seinen Hauch, und es sträubte sich mein Haar.“

37. Bucklig, einäugig, hinkend
    Im Mittelalter bis auf Ludwig XII. besaß jede Stadt in Frankreich ihre Freistatt. In der Flut der Strafgesetze und der barbarischen Gerichte, die die Stadt überschwemmte, waren es Inseln, die über dem Strom menschlicher Gerichtsbarkeit emporragten. Jeder Verbrecher, der sie betrat, war gerettet. In einem Weichbild befanden sich sogar ebenso viele Freistätten wie Galgen. Auf der einen Seite sah man Mißbrauch der Straflosigkeit, auf der anderen Mißbrauch der Strafen, als strebten beide Mißbräuche sich auszugleichen. Königliche Paläste, Schlösser der Prinzen, besonders aber Kirchen besaßen das Recht der Freistatt. Wollte man bisweilen eine ganze Stadt wieder bevölkern, so ernannte man sie zu einer Freistatt. So ernannte Ludwig XI. Paris 1487 zum Asyl.
    Sobald der Verbrecher die Freistatt einmal betreten hatte, war er geheiligt; er mußte sich aber hüten, sie zu verlassen; ein Schritt außer dem Heiligtum stürzte ihn wieder in die Wellen. Rad und Galgen bewachten das Heiligtum sehr scharf und lauerten stets auf ihre Beute, wie Haifische ein Schiff umschwärmen. Man sah Verurteilte, die im Kloster, auf der Treppe eines Palastes Greise wurden; so ward denn auch die Freistatt zum Gefängnis, wie jedes andere. Bisweilen verletzte auch ein feierliches Urteil des Parlaments die Freistatt und überlieferte den Verurteilten dem Henker; doch dies ereignete sich selten. Wehe dem, der mit bewaffneter Hand eine Freistatt verletzte, wenn nicht ein Spruch des Parlaments vorhanden war! Man kennt den Tod von Robert von Clermont, Marschall von Frankreich, und Jean von Châlons, Marschall von Champagne, und dennoch handelte es sich nur um einen elenden Mörder, einen gewissen Perrin Marc, den Diener eines Wechslers. Allein die beiden Marschälle hatten die Tore von St. Mery erbrochen, und darin bestand das unerhörte Verbrechen. Jede Freistatt wurde von solcher Achtung umgeben, daß diese nach der Tradition sich sogar bis auf die Tiere erstreckte. Aymoin erzählt, ein von Dagobert gejagter Hirsch habe sich in der Kapelle des heiligen Dionys geflüchtet, und die Meute habe plötzlich bellend stillgestanden.
    Die Kirchen hatten in der Regel ein Kämmerchen, die Geflüchteten aufzunehmen. So ließ Nicolas Flamel unter den Gewölben von St. Jacques de la Boucherie ein kleines Zimmer bauen, das ihn vier Livres sechs Sous sechzehn Heller kostete. In Notre-Dame war dies eine kleine Zelle oben am Seiteneingang unter den Gewölbepfeilern. Dort hatte Quasimodo nach seinem triumphierenden Lauf um die Galerien und Türme Esmeralda niedergelegt. So lange der Lauf dauerte, hatte das Mädchen nicht zur Besinnung kommen können; halb schlafend, halb wachend, fühlte sie nur, daß sie emporstieg, in der Luft schwebte und flog, kurz, das etwas sie über die Erde erhob. Von Zeit zu Zeit traf das laute Lachen, die brausende Stimme Quasimodos ihr Ohr; dann schlug sie die Augen auf und sah ein verwirrtes Bild der tausend Schiefer- und Ziegeldächer von Paris wie ein rotes und blaues Mosaik, und über ihrem Haupte die verzückte, erschreckende Gestalt Quasimodos. Ihre Augenwimpern schlossen sich wieder, sie wähnte, alles sei vorbei, sie sei hingerichtet, und der mißgestaltete Geist, der ihr Geschick geleitet, habe sie wieder ergriffen und

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