Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
wer weiß? Vielleicht henkt man mich nicht. Wer sich verlobt, heiratet nicht immer. Findet man mich in ihrer Kammer so possierlich gekleidet mit Weiberrock und Haube, fangen die Häscher vielleicht an zu lachen. Und henkt man mich, so ist der Strick ein Tod wie jeder andre, oder vielmehr kein Tod wie jeder andre, ein Tod würdig eines Weisen, der sein ganzes Leben hindurch schwankte, weder Fleisch, noch Fisch, wie der Geist des wahren Skeptikers, ein Tod voll Pyrrhonismus und Bedenken, der Euch zwischen Himmel und Erde in der Schwebe läßt, der Tod eines Philosophen, der mir vielleicht vorherbestimmt war. Es ist herrlich zu sterben, wie man lebte.“
Der Priester unterbrach ihn. „Also ist die Sache abgeschlossen.“ – „Was ist denn im Notfall der Tod?“ sprach Gringoire begeistert weiter, „ein schlimmer Augenblick, ein Brückenzoll, der Übergang von wenig zu nichts. Als jemand Cercidas aus Megalopolis fragte, ob er mit Freuden stürbe, gab er zur Antwort: ‚Warum nicht? Bald sehe ich die großen Männer, Pythagoras unter den Philosophen, Hecatäus unter den Geschichtsschreibern, Homer unter den Dichtern, Olympus unter den Musikern.‘ “
Der Archidiakonus reichte ihm die Hand. „Also die Sache ist abgeschlossen. Ihr kommt morgen.“
Diese Bewegung führte Gringoire zur Wirklichkeit zurück. „Meiner Treu, nein!“ sagte er. „Gehenkt werden? Abgeschmackt! Ich habe keine Lust.“ – „Gut! Lebt wohl. – Ich werde dich schon wieder treffen“, murmelte der Archidiakonus. Der Teufel von Pfaffen soll mich nicht wieder treffen, dachte Gringoire und lief hinter ihm her. „Hört, Herr Archidiakonus, keine Feindschaft zwischen alten Freunden! Ihr nehmt Anteil an dem Mädchen, an meiner Frau, wollte ich sagen. Ihr habt eine List ersonnen, sie aus Notre-Dame zu bringen, die aber sehr unangenehm für mich ist. Wenn ich nun ein anderes Mittel bereit hätte? Ich sage Euch, mir fällt in dem Augenblick ein lichtvoller Gedanke ein, sie aus der Verlegenheit zu ziehen, ohne meinen Hals mit irgendeiner Schlinge in Berührung zu bringen. Was meint Ihr? Ist es denn durchaus notwendig, daß ich auch gehenkt werde?“
Der Priester riß ärgerlich an den Knöpfen seines Kleides. „Strom von Worten! Sag’, was ist dein Mittel?“ „Ja, ja“, sprach Gringoire zu sich selbst und legte den Zeigefinger auf die Nase. „Ich hab’s! Die Landstreicher sind brave Jungen! Der Zigeunerstamm liebt sie. Beim ersten Wort werden sie in Aufruhr geraten. Nichts leichter. Eine Überrumpelung! Während des Getümmels kann man sie leicht entführen. Morgen abend … Es wird ihnen ganz recht sein.“
Der Priester schüttelte ihn. „Dein Mittel! Schnell!“ Gringoire wandte sich majestätisch zu ihm. „Laßt mich. Ihr seht, ich bin schlau.“ Dann überlegte er noch einige Augenblicke, klatschte in die Hände und rief: „Bewunderungswürdig! Der Erfolg ist sicher!„
„Dein Mittel!“ rief Claude zornig. – „Hört, ich will’s Euch ins Ohr sagen. Eine wahrhaft schlaue Gegenmine, die uns alle aus der Angelegenheit zieht. Wahrhaftig, ich bin doch kein Einfaltspinsel, gesteht es ein! … Ah so, ist die Ziege bei meiner Frau?“ – „Ja, der Teufel mag dich holen!“ – „Sie wollen auch die henken?“ – „Was kümmert’s mich?“ – „Ja, ganz gewiß. Vergangenen Monat hing ein Zuchtschwein am Galgen. Dem Henker ist das sehr willkommen. Er kann das Tier verspeisen. Arme Djali! Armes, kleines, unschuldiges Lamm!“ – „Verflucht! Du bist der Henker! Schelm, welches Rettungsmittel hast du gefunden?“ – „Meister, hört!“
Gringoire neigte sich zum Ohr des Archidiakonus, sprach sehr leise und warf von einem Ende der Straße zum andern einen unruhigen Blick, um zu sehen, ob niemand vorüberginge. Als er mit Dom Claude gesprochen, drückte ihm dieser die Hand und sprach kalt: „Also morgen!“
„Ja, morgen“, wiederholte Gringoire. Als der Archidiakonus fortging, schlug er einen entgegengesetzten Weg ein und sprach halblaut: „Eine gewaltige Geschichte, Herr Peter Gringoire! Was tut’s? Wenn man klein ist, erschrickt man noch nicht vor großen Unternehmungen. Bachstelzen und Grasmücken fliegen übers Meer.“
42. Werde Landstreicher!
Als der Archidiakonus wieder ins Kloster trat, fand er seinen Bruder Jehan wartend an der Tür seiner Zelle. Jehan vertrieb sich die Langeweile des Wartens, indem er das Gesicht seines Bruders, mit einer übermäßig verlängerten Nase bereichert, mit einer Kohle auf die
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