Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
ich gebe zu, dies ist eine traurige Anwendung meiner intellektuellen Kräfte, und der Mensch ist nicht geschaffen, sein Leben damit zuzubringen, ein Tamburin zu schlagen und Stühle auf den Zähnen zu tragen. Aber, ehrwürdiger Meister, es ist nicht genug, zu leben, man muß sich auch seinen Lebensunterhalt erwerben.“
Dom Claude hörte schweigend zu. Plötzlich nahm sein Auge einen so durchdringenden Blick an, daß Gringoire fühlte, wie er gleichsam die innersten Tiefen seiner Seele durchforschte.
„Recht gut, Meister Peter; weshalb aber seid Ihr jetzt in der Gesellschaft der Zigeunerin?“ – „Meiner Treu, sie ist meine Frau, und ich bin ihr Mann.“ – Das dunkle Auge des Priesters sprühte Funken.
„Elender!“ rief er aus und ergriff den Arm Gringoires, „du bist so schändlich gewesen, dies Mädchen zu berühren?“ – „So wahr ich auf das Paradies hoffe“, erwiderte Gringoire, an allen Gliedern zitternd, „ich schwöre Euch, daß ich sie noch nie berührt habe, wenn Euch das beruhigen kann.“ – „Was sprichst du denn von Mann und Frau?“
Gringoire erzählte schnell seine Abenteuer im Hofe der Wunder und seine Ehe des zerbrochenen Kruges. Es schien, die Heirat habe kein anderes Resultat gehabt, und die Zigeunerin habe ihn jeden Abend um seine Hochzeitsnacht, wie am ersten Abend, geprellt. – „Es ist ein Mißgeschick. Ich hatte das Unglück, ein keusches Mädchen zu heiraten.“
„Was soll das heißen?“ fragte der Archidiakonus, der im Verfolg des Berichtes allmählich ruhiger ward. – „Das ist schwer zu erklären“, erwiderte der Dichter; „es ist aus Aberglauben. Nach dem, was mir ein alter Schelm, der bei uns der Zigeunerherzog heißt, gesagt hat, ist sie ein gefundenes oder verlorenes Mädchen, was ganz dasselbe bedeutet. Am Hals trägt sie ein Amulett, woran, wie es heißt, sie ihre Eltern einst wiedererkennen werden. Das Amulett aber würde die Kraft verlieren, verlöre das Mädchen ihre Tugend; daraus folgt, daß wir beide sehr tugendhaft zusammen leben.“
„Ihr glaubt also“, sagte Dom Claude, dessen Stirn sich immer mehr und mehr runzelte, „daß dies Geschöpf noch von keinem Mann berührt wurde?“
„Was kann ein Mann mit Aberglauben anfangen? Sie hat sich das einmal in den Kopf gesetzt. Gewiß ist diese Nonnensprödigkeit eine Seltenheit, denn sie bleibt unberührt unter all den Zigeunerinnen, die doch so leicht zu haben sind. Und drei Dinge beschützen sie, erstens: der Zigeunerherzog, der sie unter besondere Aufsicht genommen hat und sie vielleicht einmal einem Abte zu verkaufen gedenkt; zweitens: der ganze Stamm, der sie besonders verehrt, als wäre sie eine zweite heilige Jungfrau; und drittens: ein kleiner Dolch, den die Schelmin stets irgendwo stecken hat, ungeachtet der Ordonnanz des Prévot, und den sie, wenn man sie um die Hüften faßt, hervorzieht. Sie ist eine wilde Wespe.“
Der Archidiakonus drängte Gringoire mit Fragen. Nach Gringoires Urteil war Esmeralda ein harmloses, reizendes Mädchen von großer Schönheit, nur mit Ausnahme des ihr besondern Mäulchens; ein leidenschaftliches, naives Kind, das ganz unwissend für alles begeistert ward; die den Unterschied zwischen Mann und Weib noch nicht einmal im Traume geahnt hatte; verliebt in Tanz, Geräusch und frische Luft, eine Art Biene, mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen, die im Wirbel lebte. Diese Natur verdankte sie dem herumirrenden Leben, das sie stets geführt hatte. Gringoire hatte herausgebracht, als Kind habe sie Spanien und Katalonien bis Sizilien durchreist; er glaubte sogar, sie sei durch die Zigeuner-Karawane, zu der sie gehörte, zum Königreich Algier geführt, das ein Land in Achaïa sei, welches Achaïa an Klein-Albanien, Griechenland und das Meer von Sizilien grenze und auf dem Wege nach Konstantinopel liege. „Die Zigeuner“, sagte Gringoire, „waren Vasallen des Königs von Algier; denn dieser ist Lehensherr der weißen Mauren.“ Er wußte gewiß, Esmeralda sei noch als Kind von Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern hatte das junge Mädchen sonderbare Worte, fremde Lieder und Gedanken mitgebracht, so daß ihre Sprache ebenso bizarr war wie ihre halb afrikanische, halb parisische Kleidung. Übrigens war sie wegen ihrer Munterkeit und Schönheit, wegen ihres lebhaften Ganges und wegen ihrer Lieder und Tänze in allen Quartieren, die sie besuchte, beim Volke beliebt. Sie glaubte, in ganz Paris werde sie nur von zwei Personen gehaßt, von denen sie
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