Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
PHOEBUS.
„Die Ziege hat das geschrieben?“ fragte sie mit bebender Stimme. – „Ja, Pate“, sagte Bérangère. Man konnte unmöglich daran zweifeln, denn das Kind konnte nicht schreiben.
„Das also ist das Geheimnis“, dachte Fleur-de-Lys. Bei dem Rufe des Kindes waren alle herbeigekommen, die Mutter, die Mädchen, die Zigeunerin, der Hauptmann. Die Zigeunerin sah die Dummheit, welche die Ziege begangen hatte. Sie ward abwechselnd rot und blaß und fing an, wie eine Verbrecherin in Gegenwart des Hauptmanns zu zittern, der sie mit einem Lächeln des Erstaunens und der Zufriedenheit betrachtete.
„Phoebus!“ flüsterten die Mädchen, „so heißt ja der Hauptmann.“ – „Ihr habt ein wunderbares Gedächtnis“, sprach Fleur-de-Lys zu der versteinerten Zigeunerin. Dann brach sie in Schluchzen aus, barg voll Schmerz ihr schönes Antlitz in den Händen und stammelte: „Oh, sie ist eine Zauberin!“ Zugleich vernahm sie im Herzen eine Stimme, die ihr zurief: „Sie ist eine Nebenbuhlerin!“
Sie fiel in Ohnmacht. „Meine Tochter! Meine Tochter!“ rief die Mutter erschreckt. „Geh, Zigeunerin der Hölle!“ In einem Augenblick nahm Esmeralda die verhängnisvollen Buchstaben auf, gab Djali ein Zeichen und ging aus der einen Tür, während die Mädchen Fleur-de-Lys aus der andern forttrugen. Als der Hauptmann Phoebus so allein blieb, schwankte er einen Augenblick in der Wahl beider Türen und folgte dann der Zigeunerin.
25. Priester und Philosoph sind zweierlei
Der Priester, den die Mädchen auf der Spitze des nördlichen Turms erblickt hatten, wie er gespannt dem Tanze der Zigeunerin zuschaute, war wirklich der Archidiakonus Claude Frollo. Unsere Leser haben die geheimnisvolle Zelle nicht vergessen, die der Archidiakonus sich auf diesem Turme vorbehalten hatte. Täglich bestieg er eine Stunde vor Sonnenuntergang die Treppe des Turmes, schloß sich in die Zelle ein und brachte dort oft ganze Nächte zu. Als er an jenem Tage hinaufstieg, drang der Schall des Tamburins und der Kastagnetten bis an sein Ohr. Claude Frollo begab sich also auf den Turm, und stand da, weil er von seiner Zelle aus den Platz nicht überblicken konnte. Dort weilte er ernst, unbeweglich in einen Blick und in einen Gedanken versunken. Ganz Paris lag mit seinen tausend Türmen, der unter Brücken sich hinschlängelnden Seine, dem wogenden Volk, den Rauchwolken und der hügelartigen Kette von Dächern zu seinen Füßen; doch nur einen Punkt des Pflasters sah der Archidiakonus, den Platz vor der Kirche, nur eine Gestalt, die Zigeunerin.
Man konnte sich nicht leicht die Natur des Blicks und die ihm entsprühende Glut erklären; der Blick war zugleich starr und verstört. Schaute man die vollkommene Unbeweglichkeit des Körpers, der nur dann und wann durch Schauder geschüttelt wurde wie ein Baum im Sturme, sah man die Starrheit seiner Arme, die, sich auf den Marmor stützend, auch aus Stein zu sein schienen, schaute man auf Claude Frollos Lippen das kalte Lächeln, so hätte man geglaubt, nur in seinen Augen glühe noch Leben. Die Zigeunerin tanzte, schwang ihr Tambourin auf den Fingerspitzen und warf es mitten in provenzalischen Sarabanden in die Luft; sie schwebte behend, leicht heiter und empfand nicht das Gewicht des furchtbaren Blickes, der wie Blei auf ihr Haupt sank.
Die Menge wimmelte um sie her; bisweilen ging ein Mann mit halb rotem, halb gelbem Wams im Kreise herum, setzte sich dann einige Schritte von der Tänzerin entfernt auf einen Stuhl und nahm den Kopf der Ziege zwischen seine Knie. Dieser Mann schien der Gefährte der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo konnte auf dem hohen Punkte, wo er stand, seine Züge nicht erkennen. Sobald der Archidiakonus den Unbekannten erblickte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen diesem und der Tänzerin zu teilen, während sein Gesicht stets düsterer wurde. Plötzlich richtete er sich auf, und ein Zittern zuckte in allen seinen Gliedern. „Wer ist der Mensch?“ murmelte er zwischen den Zähnen. „Bisher sah ich sie doch stets allein.“
Dann stieg er wieder die gewundene Wölbung der Wendeltreppe hinab. Als er vor der Tür des Glöckners vorbeikam, sah er sie halb offen stehen und bemerkte, daß Quasimodo, an eine Öffnung der Windlöcher von Schiefer, die ungeheuren Jalusien gleichen, angelehnt, auch auf den Platz hinblickte. Er war in so tiefes Sinnen versunken, daß er das Vorbeigehen seines Adoptivvaters nicht bemerkte. Sein wildes Auge hatte einen eigentümlichen,
Weitere Kostenlose Bücher