Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
zum großen Leidwesen aller Liebhaber, die dem Glockenspiel auf dem Pont-au-Change mit Vergnügen zuhörten und erstaunt wie ein Hund, dem man einen Knochen zeigte und einen Stein gab, davonschlichen.
27. ‘ANAGKH
An einem schönen Tage desselben Monats (ich glaube, es war Sonnabend, der 29. März, Tag des heiligen Eustachius) bemerkte unser junger Freund, der Student Jehan Frollo du Moulin, beim Ankleiden, die Hosen, in denen seine Börse steckte, gäben keinen metallischen Klang. „Arme Börse“, sprach er, sie aus der Tasche ziehend, „wie haben die Würfel, Venus und Bierkrüge dich ausgeweidet! Wie leer, gerunzelt und verschrumpft! Du gleichst dem Busen eines alten Weibes!“
Voll Schmerz kleidete er sich an, als ihn ein Gedanke überraschte. Zuerst wies er ihn zurück; allein er kehrte wieder, und Jehan zog seine Weste verkehrt an, so heftig war der Kampf in seinem Innern. Endlich warf er seine Mütze auf den Boden und rief: „Desto schlimmer! Geschehe, was da will! Eine Predigt werde ich in den Kauf bekommen, aber auch einen Taler!“ Dann zog er seinen pelzgefütterten Rock an, nahm seine Mütze und schritt hinaus, wie ein Mensch, der zum Äußersten entschlossen ist. Als er vor Notre-Dame stand, fühlte er wieder seine frühere Unentschlossenheit, ging mehrere Male auf und ab und wiederholte mit Beklemmung: „Der Taler ist zweifelhaft, aber die Predigt ist hart und gerissen!“
Einen Kirchendiener, der aus dem Kloster trat, hielt er mit den Worten an: „Wo ist der Herr Archidiakonus?“ – „Ich glaube“, war die Antwort, „er ist in der Zelle des Turmes; ich rate Euch, ihn dort nicht zu stören, wenn Ihr nicht wenigstens im Auftrage des Königs oder des Papstes kommt.“
Jehan klatschte in die Hände. „Zum Teufel, das ist eine schöne Gelegenheit, seine Zauber-Zelle zu sehen.“ Entschlossen ging er durch das kleine Tor und stieg die Treppe des Turmes hinan. – „So werde ich’s sehen“, dachte er unterwegs. „Bei dem Überrock der heiligen Jungfrau! Die Zelle da muß merkwürdig sein; denn mein Bruder verbirgt sie sorgfältiger als seine Schamteile. Man sagt, dort brennt er höllisches Feuer und läßt den Stein der Weisen sieden. Bei Gott! Mir gilt der Stein so viel wie ein Kiesel, und ich möchte auf seinem Ofen lieber einen Eierkuchen finden, als den größten Stein der Weisen in der Welt!“
Nachdem er tausend Schock Donnerwetter über die endlose Treppe geflucht hatte, stand er endlich keuchend vor der magischen Zelle seines Bruders. Der Schlüssel steckte im Schloß und die Tür war nur angelehnt. Er öffnete sie leise und steckte den Kopf durch die Öffnung.
Wer Rembrandts „Faust“ gesehen hat, mag sich einen Begriff von dem machen, was Jehan Frollo jetzt erblickte. Mitten in einer düsteren Zelle steht ein mit scheußlichen Gegenständen bedeckter Tisch; man sieht Totenköpfe, Globen, Destillier-Kolben, Kompasse, hieroglyphische Pergamente. Der Doktor sitzt da in seinem dicken Oberkleid und seiner bis auf die Augen hinabgedrückten Pelzmütze. Halb hat er sich von seinem Sessel erhoben und betrachtet voll Neugier und Schrecken einen großen Lichtkreis, der auf der Mauer im Hintergrunde wie die reflektierte Sonnenscheibe in der Camera obscura glänzt. Diese kabbalistische Sonne scheint zu zittern und erfüllt die bleiche Kammer mit einem magischen Strahl. Das Ganze ist zugleich furchtbar und schön.
Etwas Ähnliches bot sich Jehans Auge, als er seinen Kopf durch die angelehnte Tür wagte. Auch dort stand ein Tisch voll Kompasse, Destillier-Kolben; an der Decke hingen Tierskelette, auf dem Fußboden lagen Himmelskugeln und Geschirre mit Goldplättchen durcheinander, Totenköpfe ruhten auf alten Pergamenten mit sonderbaren Zeichen, dicke Manuskripte lagen aufgeschlagen da, ohne Mitleid für die harten Ecken des Pergaments; alles war von Staub und Spinngeweben bedeckt; nur der Lichtkreis fehlte. In einem Sessel saß ein Mann und lehnte sich gekrümmt über den Tisch. Jehan, dem er den Rücken wandte, konnte nur seine Schultern und den hinteren Teil seines Schädels betrachten. An dem kahlen Haupte, dem die Natur eine ewige Tonsur beschieden zu haben schien, als wollte sie dadurch den unabwendbaren geistlichen Beruf des Archidiakonus andeuten, konnte er diesen leicht erkennen. Die Tür war so leise geöffnet, daß Claude seines Bruders Gegenwart nicht bemerkte. Er sprach in abgebrochenen Sätzen vor sich hin, wobei er von Zeit zu Zeit wieder in seine Manuskripte
Weitere Kostenlose Bücher