Der Glucksbringer
Gesicht, einen verkrüppelten Körper und wenig Hoffnung auf ein sorgenfreies Leben, wie ihr Vater es für sie vorsah. Nein, die Frau, die er liebte, hatte Besseres verdient. Er seufzte resigniert. Er durfte nicht mehr an sie denken. Wenn er Corinne nicht endlich vergaß, würde er noch verrückt werden. Seine Finger streiften die Brosche, die er immer bei sich trug. In seiner Hosentasche, damit sie niemand stehlen konnte, falls jemand in sein Zimmer einbrach.
Er passierte einen Kolonialwarenladen und warf beiläufig einen Blick ins Schaufenster. Dort lagen alle möglichen
Schreibwaren ausgestellt: Füllhalter, Weihnachtsund andere Grußkarten, Notizblocks, in Leder gebundene Tagebücher und anderes. Er zählte die wenigen Münzen, die er noch hatte. Sie reichten gerade für einen Laib Brot und ein Stück Käse. Schuldbewusst strich er sich über den Bart. Er hatte sich lange Zeit so sterbenselend gefühlt, dass er nicht einmal seiner Mutter ein Lebenszeichen geschickt hatte. Im Nachhinein machte er sich bittere Vorwürfe. Wie konnte er derart egoistisch und unsensibel sein? Bei der Erinnerung an seine Mutter dachte er unwillkürlich an das Weihnachtsfest in Kilbricken. Dort war es jetzt gewiss sehr kalt, womöglich lag sogar Schnee. O’Malleys Teich war bestimmt zugefroren, und die Kinder liefen Schlittschuh auf der glitzernden Eisfläche. Auf dem Dorfplatz stand ein großer, festlich geschmückter Baum, und der Kirchenchor von St. Finbar’s sang allabendlich Weihnachtslieder.
Er ließ seinen Blick umherspazieren. Der Himmel überspannte wie eine azurblaue Kuppel die Stadt, es war heiß. Arbeiter mit hochgerollten Hemdsärmeln liefen an ihm vorbei in ihre wohlverdiente Mittagspause. Die Frauen waren in leichte, kühlende Stoffe gehüllt und trugen bunte Stoffschirme zum Schutz vor der Sonneneinstrahlung. Die australische Weihnacht war Welten von der irischen entfernt. Und es wäre das erste Weihnachten, das Ma seit seiner Geburt allein feierte. Kurz entschlossen betrat er das Geschäft und kaufte Schreibpapier, Umschlag, Füllhalter und Tinte.
Rosemary Westaway umklammerte die holzgedrechselte Schiffsreling, während der Dampfer stampfend und schaukelnd in den Hafen einlief. Sie freute sich irrsinnig darauf, endlich wieder festen Boden unter den
Füßen zu spüren. Die vielen Wochen auf See hatten an ihrer sonst so robusten Konstitution gezehrt. Sie konnte die vielen Tage nicht mehr zählen, an denen sie seekrank in ihrer Koje gelegen hatte. Jetzt betrachtete sie jedoch interessiert die vielen kleinen Häuser, welche die Küstenlinie säumten. Liam wohnte dort – irgendwo in einem dieser Cottages, die aus der Ferne wie Spielzeughütten anmuteten. Um ihn aufzuspüren, hatte sie den halben Globus umrundet. Und sie würde ihn finden, das stand so fest wie das Amen in der Kirche, machte Rosemary sich selber Mut.
Nach der Unterredung mit dem Earl hatte sie wenig Hoffnung gehabt, dass ihr Sohn noch lebte. Dann hatte sie zufällig Dave Boyle vor der Bäckerei getroffen und ihm Tod, Teufel und Schlimmeres an den Hals gewünscht, falls er nicht mit der Sprache herausrückte. Auf diese Weise hatte sie ihm Informationen abgepresst. Sein »Geständnis« dokumentierte ihr, dass der Earl hinter Liams Verschwinden steckte. Aber wie sollte sie das Constable Dowd beweisen? Ungeachtet ihrer Drohungen und Beschwörungen sträubte Boyle sich nämlich hartnäckig, vor Gericht auszusagen. Liams Brief, der im neuen Jahr eintraf, war das denkbar schönste Weihnachtsgeschenk gewesen. Sie hatte spontan alles verkauft, was sie besaß, Liams Werkzeug in eine Holzkiste gepackt und die nächste Passage nach Australien gebucht.
Kurz vor ihrer Abreise hatte sie Corinne besucht, die inzwischen in Waterford lebte, und über die erfreuliche Fügung informiert. Die junge Frau hatte drei Monate nach Liams Verschwinden geheiratet, nachdem der Earl sie zu einer überstürzten Eheschließung mit David O’Donnell, dem Bankierssohn, genötigt hatte. Das Mädchen
sollte zumindest wissen, dass Liam noch lebte, auch wenn er weit weg war. Daraufhin erzählte Corinne ihr, dass die Topasbrosche verschwunden sei. Sie habe das Zimmermädchen des Diebstahls verdächtigt und kurzerhand entlassen, obwohl die Bedienstete hartnäckig ihre Unschuld beteuerte. Aber wo war die Brosche? Bei irgendeinem Pfandleiher? Schmückte sie den Sonntagsstaat irgendeines Hausmädchens? Oder war sie einfach spurlos verloren gegangen?
Und der Earl? Rosemarys Mundwinkel
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