Der Glucksbringer
große Herausforderung und will reiflich überlegt sein.« Insgeheim war sie leicht geschockt über sein großzügiges Angebot. Die meisten jungen Designer hätten den Job mit Kusshand genommen, und sei es auch nur, um Berufserfahrung zu sammeln oder um gewisse Gestaltungsfreiräume zu haben. Linda musste sich jedoch erst an den Gedanken gewöhnen. Sie fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, so weit weg von zu Hause in einem ihr völlig unbekannten Umfeld kreativ zu werden.
»Aber natürlich, natürlich.« Er gestikulierte fahrig mit den Händen. »Dafür habe ich volles Verständnis. Kommen Sie doch einfach unverbindlich nach Siena, und schauen Sie sich unser Unternehmen und den Showroom an. Ich bin sicher, das würde Ihnen die Entscheidung erleichtern. Meine Firma übernimmt selbstverständlich die Reisekosten.«
»Das ist sehr nett, aber leider zeitlich nicht machbar. Ich fliege in Kürze nach Australien zurück«, antwortete Linda ausweichend. Ihr war klar, dass Signor Bernasconi nicht locker lassen würde, bis sie auf sein lukratives Angebot einging. Eigentlich hatte sie sich ja auch fest vorgenommen, nach ihrem Universitätsabschluss viel zu reisen. Und wenn sie in Italien leben würde, könnte sie eine Menge von Europa sehen. Außerdem war Siena nicht weit weg von Florenz und von Tony …
»Nun, mein Angebot steht für die nächsten zwei Wochen. Denken Sie inzwischen in aller Ruhe darüber nach, Linda.« Er schob ihr über den Tisch eine weitere Visitenkarte zu. »Wenn Sie sich entschieden haben, rufen Sie mich an.« Er grinste gewinnend. »Ich hoffe, Ihre Antwort ist positiv.«
Kurz darauf verabschiedeten sie sich voneinander. Als Tony eine halbe Stunden später in Lindas Hotel kam, um sie abzuholen, sprudelte sie in ihrem Mitteilungsdrang fast über.
»Das klingt alles sehr vielversprechend«, bekannte er. »Trotzdem kann man heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Weißt du was, ich rufe meinen Onkel an. Er verfügt über weitreichende Geschäftskontakte in Siena. Und kann bestimmt herausbekommen, ob der Job bei der Siena Jewellery Company nicht bloß vorgeschoben
ist. Womöglich will dieser Signor Bernasconi etwas ganz anderes von dir.«
Sie musste über seine typisch männliche Skepsis lachen. »Ganz bestimmt nicht. Trotzdem danke. Wenn dir dann wohler ist.« Insgeheim wertete sie es als ein positives Signal, dass er sich ihretwegen sorgte. Sie nahm immer wieder neue, positive Seiten an ihm wahr, die sie früher für selbstverständlich genommen hatte.
»Mach ich doch gern.« Er stand auf und zog sie von ihrem Stuhl hoch. »Hoffentlich hast du bequeme Schuhe angezogen, denn wir werden uns heute eine Menge Interessantes in Paris anschauen.«
»Dann mal los!« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Ein ausgedehntes heißes Bad linderte Lindas höllischen Muskelkater. Nachdem Tony sie den ganzen Tag von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten geschleift hatte, war sie völlig k. o. – aber glücklich! Das Zusammensein mit ihm war himmlisch. Die Dinge mit den Augen des anderen wahrzunehmen gab dieser Reise ein besonderes Flair, so dass sie sich stets an die schönen und intensiv erlebten Momente mit ihm erinnern würde.
Sie hatten früh zu Abend gegessen und sich vor nicht einmal einer Stunde getrennt. Und jetzt saß sie in dem duftenden Schaumbad und träumte vor sich hin, während ihre Gedanken zu ihm spazierten.
Linda trocknete sich ab und zog ihren Bademantel an. Dann legte sie sich auf das Hotelbett und starrte an die Zimmerdecke. Sie war zwar körperlich geschafft, aber nicht so richtig müde, um schlafen zu können. Während sie sich gemeinsam die schönsten Flecken von Paris angeschaut hatten, hatten sie und Tony ausgiebig darüber
diskutiert, was für das Jobangebot in Siena sprach oder ob sie lieber die Finger davon lassen sollte. Seine Argumentation schwirrte ihr im Kopf herum. Und sie dachte an die überwältigenden Gefühle, die sie für ihn empfand und die mit jedem Tag intensiver wurden.
Wenn sie bloß wüsste, wie er zu ihr stand: Ob er noch irgendwelche tieferen Regungen für sie empfand? Schwer zu sagen. Oberflächlich betrachtet, fand sich dafür kein Hinweis. Er benahm sich wie ein guter Freund, dem die gemeinsamen Ausflüge mit ihr großen Spaß machten. Vor einem knappen Jahr hatte er ihr seine Liebe offenbart und sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Ob sich seine Liebe nach der Trennung zwangsläufig in Freundschaft verwandelt hatte? Was für eine grausame
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