Der Glucksbringer
Wendung des Schicksals, nachdem sie jetzt lichterloh für ihn entbrannt war. Sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens, und – Schreck lass nach – sie begehrte ihn. Und die Ungewissheit, ob der Funke bei ihm nicht vielleicht doch wieder überspringen würde, brachte sie fast um. Für gewöhnlich hatte sie sich und ihr Gefühlsleben ausgezeichnet im Griff, aber bei Tony schwand ihre Selbstkontrolle wie Eiskristalle in der Sonne. Ein Glück, dass er davon nichts ahnte!
Es mochte absurd klingen, aber Linda fand es erregend und zermürbend zugleich. Von einer Minute auf die nächste schwankte ihr Gemütszustand zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Was sollte sie bloß machen? Am besten gar nichts. Wenigstens noch nicht. Erst mal abwarten und die Dinge auf sich zukommen lassen.
In ihre Selbstanalyse versunken, fuhr sie erschrocken zusammen, als das Telefon neben ihrem Bett auf dem Nachttisch klingelte. Sie blinzelte im abendlichen Dämmerlicht
auf die Neonziffern ihres Reiseweckers: Viertel vor neun. Wer mochte das um diese Uhrzeit sein? Tony vielleicht?
»Hallo?«
»Mam’selle Westaway?« Die Frau betonte ihren Nachnamen mit einem starken französischen Akzent. »Tut mir leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit noch störe. Mein Name ist Gabrielle Rochefort. Ich bin Journalistin und arbeite für La Belle, die zweitgrößte französische Frauenzeitschrift. Unser Verleger bat mich, an Sie heranzutreten wegen eines Interviews für unser Magazin.«
»Ein Interview? Wieso ausgerechnet mit mir?«
»Wegen Ihrer erfolgreichen Teilnahme an dem internationalen Schmuckdesign-Wettbewerb. Ihr Erfolg ist ungewöhnlich angesichts Ihres Alters. Mein Verleger ist überzeugt davon, dass unser Lesepublikum darauf brennt, mehr über Sie zu erfahren, was für ein Typ Sie sind und was Sie zu Ihren fabelhaften Entwürfen inspiriert hat. Unsere Leser und Leserinnen lieben Erfolgsstorys.«
»Das ist sehr schmeichelhaft für mich.«
»Es entspricht der Realität, Mam’selle. Meine nächste Frage wäre, haben Sie Lust und wann hätten Sie Zeit für mich? Ich muss das Interview spätestens diesen Freitag fertig getippt haben, je eher, desto besser. Wie wäre es mit morgen?«
Das war ausgerechnet Tonys letzter Tag in Paris. Den hatten sie natürlich schon voll verplant. »Morgen ist schlecht«, meinte sie gedehnt. »Da habe ich schon etwas vor.«
Gabrielle blieb hartnäckig. »Ich brauche wirklich nur eine halbe Stunde Ihrer knapp bemessenen Zeit. Ich
bringe einen Fotografen mit. Wie wäre es vielleicht irgendwann am Spätnachmittag?«
Am Spätnachmittag, im Anschluss an ihre Sightseeingtour, wollte Tony mit ihr zum Abendessen ausgehen und anschließend in die Folies Bergères – ein krönender Abschluss an seinem letzten Abend in Paris. Linda gab zähneknirschend nach. »In Ordnung. Sagen wir um halb fünf in meinem Hotel? Wir treffen uns an der Bar, ja?«
»Absolut perfekt. Also dann bis morgen, Mam’selle. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend. Bonne nuit«, flötete Gabrielle und hängte auf.
Linda legte den Hörer auf und strahlte. Ein Bericht in einem französischen Frauenmagazin und zig Artikel in den Tageszeitungen! Nicht übel! Sie war regelrecht gespannt darauf, was Tony und ihre Eltern dazu sagen würden.
»Wenn ich nach Australien zurückfliege, bin ich bestimmt topfit«, sagte Linda. Sie sank auf einen Korbstuhl vor einem der Straßencafés in der Umgebung von Notre-Dame. Das dauernde Treppensteigen, die kilometerlangen Fußmärsche durch Parkanlagen und Museen sowie die Spaziergänge zu irgendwelchen berühmten Monumenten schlugen sich positiv in einer Superkondition nieder.
»Nicht nur du«, räumte Tony ein.
Ein Kellner kam an ihren Tisch, und sie gaben ihre Bestellung auf. Heiße Schokolade für Tony und einen Cappuccino für Linda, dazu Schokoladeneclairs.
»Und, bist du nervös wegen des Interviews heute Nachmittag?«
»Ein wenig. Es ist immerhin mein erstes«, gestand
sie. »Hab ich dir eigentlich schon mal gezeigt, was mich letztlich zu dem Entwurf der Rosemary-Kollektion inspiriert hat?« Als er den Kopf schüttelte, kramte sie in ihrer Schultertasche und fischte das kleine blaue Samtetui heraus. »Das Ganze klingt ziemlich verrückt. Mum erzählte mir vor einiger Zeit die Geschichte von diesem Familienerbstück. Schätze mal, dass mich die Brosche deshalb fasziniert, nicht zuletzt freilich auch, weil mein Großvater sie entwarf. Eines Abends, als ich sie lange und intensiv
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