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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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obwohl es dort weder Tudor noch Türme gibt – und traf meinen Vater in seinem Zimmer an, wo er im Rollstuhl saß und mit leerem Blick aus dem Fenster starrte. Eine kräftig gebaute, dunkelhäutige Krankenschwester war gerade dabei, ihm über dem zerknitterten Hemd eine rote Weste zuzuknöpfen.
    » Gehen Sie mit ihm nach draußen? « , fragte ich sie.
    » Ja. Ich wollte ihn in den Garten bringen. Es ist ein wenig kühl, aber die Sonne scheint. Ich dachte, das täte ihm gut. «
    » Gut « , sagte ich. » Ich bringe ihn hin. «
    Sie bedankte sich, verabschiedete sich von meinem Vater und ging. Ich setzte mich in einen Sessel und sah ihn an.
    » Hallo, Dad. Wie geht es dir? « , erkundigte ich mich.
    » Was? Was? « Die Finger seiner rechten Hand zitterten und zuckten.
    » Ich bin’s, David. «
    » David. «
    » Dein Sohn. «
    » Mein Sohn « , sagte er mit ausdrucksloser Miene. » Zwei Jungen – zwei; erst der Starke, dann der andere … « Er rutschte unbehaglich hin und her und setzte dann mit stärkerer Stimme noch einmal an: » Wenn du ein Auto willst, ein zuverlässiges Auto, dann kauf dir den Geo. Das ist ein bei Chevy gefertigter Toyota. Also eigentlich ein Toyota, verstehst du, wird aber Geo genannt. Das sage ich ihnen immer. Das gleiche Auto zum halben Preis. « Er sah mich an, hob den Blick, als hebe er schweres Gepäck. Seine Stimme brach zitternd: » Bist du wegen des Autos hier? «
    » Nein, Dad. Ich bin’s, David « , sagte ich. » Dein Sohn. «
    » David « , sagte er. » Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Wenn du Arzt werden willst, musst du viel lernen. «
    » Gehen wir, Dad « , sagte ich. » Wir setzen uns draußen hin. Heute ist ein schöner Tag. « Ich breitete eine Decke über seine Knie und schob seinen Rollstuhl über den langen Flur in den Garten hinaus.
    » Die Schlüssel « , drängte er. » Wo hast du die Schlüssel hingetan? «
    » Es ist gut, Dad. Ich habe sie. «
    Ich schob ihn um die weitläufige Rasenfläche herum und stellte seinen Rollstuhl neben einer roten Bank ab, von der aus man über sanft abfallendes Grün blickte. Ich setzte mich neben ihn auf die Bank. Wir beide schwiegen. Er blickte stur geradeaus, leckte sich regelmäßig die Lippen und blinzelte. Ich tat dasselbe.
    » Ein schöner Tag « , sagte ich. » Schau dir mal den Himmel an. «
    Er antwortete nicht. Ich setzte ihm eine Wasserflasche an die Lippen, und er trank langsam, mühevoll. Ich wischte ihm den Mund mit einem Papiertaschentuch ab, das ich in der Tasche hatte.
    » Hast du die Schlüssel? « , fragte er und klopfte auf seine Taschen.
    » Ja « , sagte ich, und er schien sich für einen Moment zu entspannen.
    Vom nahe gelegenen Highway hörte ich das unregelmäßige Dröhnen des Verkehrs. Jenseits des Zauns ertönte schwaches Kinderlachen.

10
    M ein Vater, Joe Winter, war immer ein tüchtiger Mann gewesen, Eigentümer von »Joe’s Autowerkstatt«. Er bildete Jeffrey, meinen acht Jahre älteren Bruder, zu seinem Nachfolger aus, was richtig war, denn Jeffrey ähnelte ihm, vom Temperament her und sogar vom Aussehen – mit seinen O-Beinen und dem frühzeitig ergrauenden Haar. Für mich, das lernbegierige und schüchterne Kind, hatte er eine Karriere als Arzt vorgesehen.
    » Du wirst Menschen reparieren. Du wirst dir die Hände nur beim Geldzählen schmutzig machen. Ha ha. «
    Und so wurde dieser Traum, Arzt zu werden, auf dem Umweg über meinen Vater auch zu meinem Traum. Meine Begabung reichte allerdings nicht für die hohen Anforderungen eines Medizinstudiums. In der Schule war ich nie gut in Biologie, Chemie – all diesen naturwissenschaftlichen Kernfächern –, und mir wurde schlecht, wenn ich im Labor die gummiartigen Schweineembryonen sezieren sollte. So standen mir, nachdem ich das Medizinpropädeutikum am College abgebrochen hatte, nur noch wenige »ärztliche« Optionen offen, deren kleinstes Übel mir damals der Bereich des Mentalen zu sein schien, den man immer noch als eine Art ärztlicher Tätigkeit begreifen konnte.
    So dachte ich zumindest. Doch die Medizin beschäftigt sich mit der Welt des Konkreten – mit Teilen, die man mit der Hand fühlen, mit einem Messer schneiden, mit Nadel und Faden zusammenflicken kann; mit Worten, auf Papier geschrieben. Das Herz schlägt, oder es schlägt nicht. Der Knochen ist gebrochen, oder er ist es nicht. Der Tumor ist ein Krebsgeschwür, oder er ist gutartig. Die Arbeit eines Psychologen jedoch beschäftigt sich mit Abstraktem – mit Worten, die sich in

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