Der goldene Kelch
gelüftet sein könnte, wenn er Gebu gleich gefolgt wäre, wenn er schneller gelaufen wäre oder wenn er mehr Mut gehabt hätte. Ich bin ja wirklich ein toller Spion! Ranofer machte sich die größten Selbstvorwürfe. Ich bin nicht nur ein Angsthase, ich bin auch noch ein Stümper! Der Alte hatte Recht: Ich sollte lieber das Steinmetzhandwerk erlernen, so gut es geht. Wenigstens kann ich damit Geld verdienen, wenn ich einmal groß bin. Und Goldschmied werde ich ja sowieso nie.
Er unterdrückte seine Abneigung gegen den Stein, die trotz allen guten Willens immer wieder in ihm aufstieg, und machte sich, wenn auch gelangweilt, in der folgenden Zeit daran, seine Geschicklichkeit in der Steinmetzarbeit zu verbessern. Er beobachtete, wie die Gesellen arbeiteten, er versuchte zu begreifen, wie die Werkstatt geleitet wurde. Eines Morgens schickte Pai ihn ins Lager, um Ordnung in den Regalen zu schaffen. Ranofer betrachtete die Zeichnungen, unter anderem den Entwurf für einen weiteren Tempelanbau, er verglich die Pläne für zwei Königsgräber und prägte sich die Unterschiede ein.
Ein Plan enthielt ein Detail, das er noch auf keiner anderen Zeichnung gesehen hatte. Es war eine Art blinder Gang oder eine kleine Kammer an einer Stelle, wo sie keinen Sinn machte. Vielleicht handelte es sich einfach um einen Fehler. Ranofer rätselte eine Weile herum. Er zwang sich, eine Erklärung zu finden, obwohl es ihn eigentlich langweilte und auch nicht im Geringsten interessierte, was es damit auf sich hatte. Er konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen, verlor die Geduld und warf die Rolle ins Regal.
Gleich darauf nahm er sie aber wieder zur Hand. Er war schließlich Lehrjunge bei einem Steinmetz und hatte beschlossen, dieses Handwerk zu erlernen, so stumpfsinnig er es auch finden mochte. Mit der Rolle in der Hand ging er in den Schuppen und suchte Pai. Stattdessen aber sah er Gebu; er hatte die Fortschritte der Fertigbearbeiter an einer Kalksteinplatte inspiziert und reckte seine Schultern.
„Was ist?“, grunzte er. „Was willst du? Was stehst du hier rum?“
„Ich wollte Pai wegen dieses Plans etwas fragen.“
„Dann frag. Mich. Ich bin hier der Meister!“ Am liebsten hätte er die Rolle in den Nil geworfen! Aber Ranofer entrollte den Plan leise und deutete auf die kleine Kammer.
„Diese Kammer da – ich verstehe nicht, wozu sie dient.“ Statt einer Antwort bekam er eine Ohrfeige und landete auf dem rauen Boden.
„Du blöder Bastard!“ Gebu schleuderte ihm den Fluch entgegen wie einen Steinbrocken. „Da gibt’s nichts zu verstehen! Du machst gefälligst, was man dir sagt. Mehr nicht! Verstanden?“
Er bückte sich, riss Ranofer die Rolle aus der Hand und stopfte sie in sein Gürtelband. Sein Gesicht war eine Maske des Zorns; Ranofer hatte ihn selten so böse gesehen. Er starrte ihn an, ganz benommen von dem Schlag und der unerwarteten Reaktion, die er verursacht hatte. „Los, steh auf!“, fauchte Gebu und gab ihm einen Tritt. Die kupferne Zehenhülle seiner Sandale grub sich in Ranofers Rippen. „An die Arbeit! Und steck deine Nase künftig nicht in Dinge, die dich nichts angehen!“ Er marschierte davon. Ranofer flüchtete sich grollend und schmollend ins Lager; damit war sein Versuch, in der Werkstatt von Nutzen zu sein, beendet, entschied er. Den Rest des Tages arbeitete er in dumpfem Schweigen – wie Neber, der andere Lehrjunge, dessen Gleichgültigkeit gegenüber Menschen und Arbeit Ranofer langsam sehr gut verstehen konnte. Am späten Nachmittag kam Wenamun. In seinem unheimlichen, katzengleichen Gang schlich er zu Gebu, der gerade einen Sockel für eine Statue ausmaß. Unter gesenkten Lidern sah Ranofer, wie Gebu schnell auf Wenamun zuging und ihn auf die Seite zog. Die beiden sprachen kurz miteinander, dann zog Gebu die Rolle aus dem Gürtelband und gab sie ihm.
Diese verfluchte Rolle!, dachte Ranofer, während er einen rot gekalkten Faden um einen Granitblock spannte. Hoffentlich bringt sie ihnen Unglück! Hoffentlich stürzt die Decke von dieser blöden Kammer ein und begräbt sie unter sich, während sie das Grab bauen! Hoffentlich haben sie in ihren blöden Plänen einen blöden Fehler gemacht und der Besitzer des Grabes bezahlt nicht und lässt sie auspeitschen! Und hoffentlich bringt er sie in der ganzen Totenstadt in Verruf! Dann hört der Pharao davon und schickt sie in die Wüste zur Arbeit in den Goldminen. Ha! Das würde Gebu gefallen, diesem erbärmlichen Dieb!
Doch leider waren alle
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