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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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Sie erklärte das Unerklärliche, sie schlug die Brücke zwischen Gebus unverdächtigem Benehmen bei Tag und seinem heimlich wachsenden Vermögen. Kein Wunder, dass alle ihre Beschattungen nichts gebracht hatten, dachte Ranofer, denn alles spielte sich ab, während er, Heqet und der Alte schliefen.
    Doch was ging nun eigentlich vor sich? Wen bestahl Gebu? Kletterte er über Mauern, schlich er mitten in der Nacht in die Häuser der Reichen und plünderte ihre Schatzhäuser und Truhen? Das konnte sich Ranofer so wenig vorstellen, wie dass ein Granitblock schwebte wie eine Feder oder ein Nilpferd schlich wie eine Katze. Die Reichen hatten Wachen in ihren Höfen, Hunde mit scharfen Ohren und Diener, die vor den Schatzhäusern schliefen. Ein Schritt von Gebu – und selbst seine verstohlensten Schritte waren noch laut genug – und das ganze Haus würde Alarm schlagen. Stahl er also in einem Goldhaus? Aber auch in den Goldhäusern gab es Wachen. Im Palast? Unmöglich! Ein lächerlicher Gedanke! Wo also?, fragte sich Ranofer verzweifelt. Wohin schleicht er sich nachts? Und wo ist er nun, in dieser Minute?
    Die Frage hallte in Ranofers Kopf wieder, als hätte er sie laut ausgesprochen. Er ließ seinen Blick langsam zum Tor wandern, das im Schatten der Mauer kaum zu sehen war.
    Und wenn ich ihm folge? Jetzt? Jetzt könnte ich es herausfinden.
    Einen Augenblick lang saß er regungslos da und starrte auf das Tor, während die Kehftiu und andere Vorstellungen des Grauens vor seinem inneren Auge vorüberzogen. Dann stand er langsam auf und schlich zum Tor. Er zögerte bebend, bevor er schließlich den Riegel zurückschob. Das Tor ging auf. Nach einer weiteren schreckerfüllten Minute trat er hinaus.
    Die Straße sah zu dieser Stunde unheimlich aus. Der Mond war schon untergegangen, die Nacht war schwarz. Nirgends flackerte eine Fackel, kein Lichtschein drang aus den Häusern. Nur die Sterne standen am Himmel, ihr Glitzern betonte jedoch nur die Dunkelheit auf der Erde. Der schwache Sternenschein fiel auf düstere Hausecken und rankende Reben und verwandelte die tagsüber vertrauten Formen in gespenstische Erscheinungen. Gebu war nirgends zu sehen.
    Ich habe zu lange gewartet, dachte Ranofer. Er ist bestimmt schon ein paar Straßen weiter, und ich habe keine Ahnung, in welche Richtung er gegangen ist. Feigling!, meldete sich eine innere Stimme. Du suchst nur nach Ausreden!
    Aber ich habe doch dem Alten versprochen, dass ich Gebu nicht bei Nacht folge, ich habe ihm mein Wort gegeben, entgegnete Ranofer.
    Feigling! Angsthase! Hier ist endlich deine Chance, und du hast Angst, sie zu ergreifen.
    Ja, er hatte Angst; das musste sich Ranofer verzweifelt eingestehen. Aber die Stimme konnte er auch nicht länger ertragen. Er zog seinen Kopf so weit wie möglich zwischen seine verkrampften Schultern und sauste die dunkle Straße hinunter zum Fluss. Er hatte keine Ahnung, ob er in die richtige Richtung lief. Vielleicht war Gebu in die entgegengesetzte Richtung gegangen oder war durch die vielen verwinkelten Gassen der Stadt zu Wenamuns Haus getrödelt. Ja, bestimmt hatte er das getan! Mit einem ängstlichen Blick über die Schulter wirbelte Ranofer herum und machte kehrt. Er sah nichts als die Dunkelheit, er hörte nichts als das leise Geräusch seiner bebenden Füße.
    Ich muss einen Zauberspruch aufsagen, dachte er. Durch die Dunkelheit hatte er ein schwarzes Rechteck erspäht, wahrscheinlich den Eingang zu einer Gasse. Er ließ die Stelle nicht mehr aus den Augen, aus Angst, etwas Unheimliches würde sich auf ihn stürzen, wenn er nicht Acht gab. „Fort mit euch, ihr toten Männer“, wisperte er schnell, „die ihr heimlich durch die Nacht schleicht, die Nase hinten, das Gesicht nach hinten gedreht.“ Mit klappernden Zähnen blieb Ranofer vor dem schmalen Durchgang zu der schwarzen Gasse stehen, die er gesucht hatte. Dort war es dunkler als auf der Straße, sehr viel dunkler sogar und sehr viel unheimlicher, sofern das überhaupt noch möglich war. Vorsichtig schlich er weiter. „Fort mit euch, ihr toten Frauen, die ihr heimlich d-durch die N-nacht schleicht, d-die Nase hinten, d-das Gesicht nach hinten g-gedreht.“ Er war schweißgebadet. Allein schon die Worte auszusprechen, machte ihm Angst. Sie beschworen fast das namenlose Grauen herauf, anstatt es zu bannen. Es konnte hinter dieser Mauer lauern, es konnte sich jetzt, in dieser Minute, hinter ihn schleichen oder über seinem Haupte schweben, eine verschrumpelte Hand ausstrecken

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