Der goldene Kelch
schlechten Wünsche, die ihm für Gebu einfielen, nicht stark genug, um Gebu aus Theben zu verbannen. Ranofer versuchte, die Rolle und seinen Ärger zu verdrängen, um diesen ohnehin schon deprimierenden Tag nicht noch schlimmer zu machen. Am Abend traf er Heqet in der Laube und erzählte ihm alles. „Er hat mir so eine gescheuert, dass mir immer noch die Ohren klingeln – dabei habe ich nur eine Frage gestellt! Sein Handwerk darf ich genauso wenig lernen wie das, das ich lernen will“, sagte Ranofer beleidigt. „Vielleicht ist diese Kammer ein Geheimnis – etwas, das du nicht wissen sollst.“
„Wieso ein Geheimnis? Die Kammer ist ja auf dem Plan eingezeichnet, jeder kann sie sehen.“
„Aber du hast doch gesagt, er hat die Rolle Wenamun gegeben.“
„Ja, daran ist aber nichts Ungewöhnliches. Ich habe dir doch erzählt, dass sie zusammenarbeiten. Lass uns jetzt nicht mehr davon sprechen. Ich kann dieses Thema nicht mehr hören!“ Aber das Thema war damit nicht beendet. Am späten Abend kehrte Ranofer heim; er hatte noch weniger Lust als sonst, nach Hause zu gehen, und war fast bis zum Einbruch der Nacht durch die Straßen gewandert. Er öffnete das Tor und sah Gebu, der mit zusammengepressten Lippen und grimmigem Blick auf ihn wartete. Ranofer hoffte, er wartete nur auf das Kupfer, lief zu ihm hin und drückte ihm seinen Lohn in die Hand. Dann drehte er sich schnell um und wollte in die Vorratskammer gehen, aber Gebu packte ihn am Arm. „Ich will eine Erklärung für die Frage, die du heute gestellt hast. Und keine Lügen! Nun, ich warte!“
„Ich habe nur gefragt, wozu die Kammer dient. Was ist denn daran so schlimm?“
Schneller als Ranofer sich ducken konnte, hob Gebu die Hand und schlug ihm auf den Mund, dass es nur so schallte; Ranofer spürte, wie seine Zähne wackelten. „Ich weiß, was du gefragt hast! Ich will wissen, warum du gefragt hast!“
„Weil ich mir Mühe gegeben habe, dein verfluchtes Handwerk zu lernen!“, schrie Ranofer. „Ich habe versucht, mir Können anzueignen, habe versucht zu verstehen, wie man Gräber und Särge baut! Aber keine Angst, damit bin ich jetzt fertig! Ich mache nur noch, was man mir sagt, kein bisschen mehr!“
Dann war er still; er bebte vor Wut und zitterte aus Entsetzen über seine Kühnheit. Gebu ließ sich nicht so einfach anschreien. Dafür müsste er bezahlen, jetzt oder später. Egal!, dachte Ranofer. Soll er mich doch schlagen! Jedenfalls hat es sich gelohnt. Doch Gebu sah ihn nur an, sein Gesicht war steinhart, nur das linke Auge zuckte. Was sich hinter der undurchdringlichen Maske abspielte, konnte niemand erraten. Nach ein paar Minuten, die so langsam vergingen wie die Ewigkeit, drehte er sich um, ging zum Tor und verschwand.
Ranofers Knie gaben nach vor Erschöpfung und Entmutigung. Er sank auf die rauen Steinplatten und konnte eine Weile an gar nichts denken. Irgendwann merkte er, dass etwas von seinem Kinn tropfte. Schnell wischte er sich übers Gesicht – seine Hand war voll Blut. Da spürte er, wie seine aufgeplatzte Lippe schmerzhaft anschwoll. Er stand auf, ging zur Vorratskammer und zog die Tür auf. Der Duft von Weizen und Salzfisch schlug ihm entgegen und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. In der Dunkelheit tastete er sich von Regal zu Regal, über runde Schalen und den struppigen Rand eines Korbes zu dem kühlen, beschlagenen Wasserkrug. Er tauchte den Becher ein und schüttete erst Wasser auf seine Lippe und sein Kinn, bevor er trank. Im Korb lagen noch ein paar Brotkrumen, in einer Schale fand er eine kleine Zwiebel; das war alles, Gebu hatte nichts übrig gelassen. Das hat er absichtlich getan, dachte Ranofer. Er aß die Zwiebel, die Krumen schüttete er in die Hand und leckte sie auf, dankbar, dass Heqet am Mittag sein Essen mit ihm geteilt hatte. Das karge Mahl hatte ihn alles andere als gesättigt, es hatte ihm nur noch mehr Hunger gemacht. Außerdem brannte seine Lippe von der scharfen Zwiebel. Sie schwoll noch mehr an und fühlte sich an wie ein Entenei. Den Schmerz konnte er mit Wasser lindern, seinen Hunger konnte es jedoch nicht stillen. Er verließ die Vorratskammer, schlug die Tür hinter sich zu und ging zu seiner Matte unterm Baum. Auf halbem Weg blieb er stehen; ihm war ein verwegener Gedanke gekommen. Er sah zur Stiege. Gebu hatte oft gedroht, ihn windelweich zu schlagen, sollte er auch nur einen Fuß in sein Zimmer setzen. Nun war Ranofer aber so weit, Gebus Drohungen zu ignorieren und ihm die Stirn zu
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