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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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bieten. Er hätte sogar seinen einzigen Schendjti gewettet, dass Gebu da oben Essen versteckt hatte. Und Gebu war schließlich nicht da.
    Da schlich er auch schon zur Stiege. Es war nun schon fast Nacht, aber die Himmelsbarke des Mondgottes Thot, die in den Nächten mit abnehmendem Mond deutlich ihre Gestalt mit dem hohen Bug zeigte, warf ihren sanften Schein auf das mit Müll übersäte Pflaster. Im Schutz der schwarzen Schatten an der Mauer huschte Ranofer die ausgetretenen, schiefen Stufen nach oben. Vor seinem inneren Auge zogen verlockende Bilder vorüber: Honigkuchen, ein ganzes Fässchen voll Salzfisch, eine Hand voll klebriger, süßer Datteln. Oben angekommen ging er auch gleich zur Tür. Dort blieb er stehen, atmete tief ein und hielt die Luft an; er spitzte die Ohren, ob nicht unten ein Geräusch zu hören wäre. Dann zog er am Riegel. Nichts bewegte sich. Er zog fester und stemmte sich gegen die Tür. Schließlich löste sich der Riegel mit einem Ruck und die Tür schwang auf.
    Das leise Knarzen der ledernen Angeln jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er betrat das Zimmer.
    Wie alle ägyptischen Wohnungen hatte auch dieser Raum keine Fenster. Auf der Höhe von Ranofers Kopf hörten die Wände jedoch auf und weit auseinander stehende Holzbalken stützten die hohe Decke. Durch die Öffnungen drang frische Nachtluft, und das Mondlicht beschien schwach Gebus verschlissene Schlafmatte und seine Kopfstütze aus gebranntem Ton. Im Zimmer standen zwei Stühle, in einer Ecke ein Kasten und eine ramponierte Truhe in der anderen.
    Zuerst ging Ranofer zum Kasten. Er fand aber nur ein Salbgefäß, halb voll mit Kohl, einen Kupferspiegel, ein Rasiermesser und ein Töpfchen mit der Salbe, die er seit neuestem benutzte. Aber auch in der Truhe sah es so aus, als würde er nicht fündig. Er tastete zwischen Sandalen, Kopftüchern, weißen Schendjtiu aus grobem Leinenstoff, die viermal so groß waren wie der, den Ranofer um seine schmalen Hüften trug, und neuen Kleidern aus feinem Stoff – da stieß er in einer Ecke auf etwas Hartes, Rundes, das in ein Baumwolltuch gewickelt war. Vielleicht ein Honigtopf, dachte er. Er zog das Ding aus der Truhe und wickelte es ungeduldig aus – und war plötzlich vor Schreck wie gelähmt.
    In der Hand hielt er einen goldenen Kelch, der schöner war als die Sonne selbst.
    Seine Knie wurden weich, er sank auf den Boden. In einem Streifen Mondlicht untersuchte er seinen Fund genauer. Der Kelch war aus reinem Gold, vollendet geformt wie eine Lotosblüte. Der edle Griff und die Einlegearbeit, ein Band am Trinkrand, waren aus kostbarstem Silber. Es war die Arbeit eines Meisters, der Djau ebenbürtig oder sogar noch überlegen war. Der Kelch war ein Vermögen wert.
    Gebu hatte ihn gestohlen, das war sicher. Aber wo? Von wem? In der Totenstadt gab es kein Goldhaus, in dem solch ein wundervoller Gegenstand geschaffen werden konnte. Nur Djau konnte das, aber Ranofer zweifelte mehr und mehr daran, dass Djau den Kelch geformt haben könnte oder gar geformt hatte, denn er war so anders als die Goldarbeiten, die er kannte. Der Boden des Kelchs war zum Beispiel ganz eigenartig gearbeitet. Vielleicht war es eine sehr alte Arbeit, die ein Edelmann von seinem Vater geerbt hatte.
    Ranofer beugte sich über den Kelch. War da nicht etwas in die goldene Rundung des Blütenblatts eingraviert? Er hielt den Kelch ins Licht und erkannte ein paar Hieroglyphen in einem Oval mit Querbalken – eine Kartusche. Das Zeichen der Könige! So schrieb man die Namen der Könige, umrandet von einer Linie. Hatte dieser verfluchte Gebu den Kelch etwa aus dem Palast gestohlen? Aber wie, um alles in der Welt, hätte er das anstellen sollen?
    Vielleicht könnte er den Namen entziffern; hoffentlich hatte er nicht schon zu viele der kleinen Bilder vergessen, die er beim Schreiber gelernt hatte. Ganz langsam las er die Hieroglyphen: „Thutmosis Men-Cheper-Ra“. Ranofers Hand wurde immer kälter, während er da kniete und den Kelch anstarrte wie eine Natter. Er las die Kartusche wieder und wieder; er hatte keinen Fehler gemacht. Der Schatz in seiner Hand trug Geburtsund Thronname von Thutmosis, dem Eroberer, der vor mehr als hundert Jahren Pharao von Ägypten gewesen war…
    Gebu hatte ein Grab geplündert! Das war die einzige Erklärung.
    Ranofer wollte nur noch weg, raus aus diesem verhexten Zimmer. Mit vor Schreck starren Fingern versuchte er, den Kelch wieder einzuwickeln und dorthin zu legen, wo er ihn gefunden hatte,

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