Der goldene Kelch
vertrauen, sagte sich Ranofer. Ich habe ihm immer vertraut, und mit den Weinschläuchen hat er mir damals auch geholfen. Sein Vater hat ihm beigebracht, den Mund zu halten, und er hat bewiesen, dass er das auch kann. Aber so viel er auch hin und her überlegte – es half nichts, er konnte niemandem von dem Kelch erzählen, Heqet nicht und auch keinem anderen Menschen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Röhricht zu meiden.
Dass Heqet ihn suchen könnte, darauf wäre Ranofer nie gekommen. Eines Abends stand Heqet nach der Arbeit vor der Werkstatt. „Du? Was machst du denn hier?“, stammelte Ranofer.
„Ich warte auf dich. Was sonst?“ Heqets Gesicht strahlte beim Anblick des Freundes. Er sah Ranofer so verwundert und fragend an, dass es Ranofer ganz heiß wurde vor Scham.
„Wo warst du denn die letzten Tage?“, fragte Heqet. „Ich fürchtete schon, Gebu hätte seine Drohungen wahr gemacht und dich umgebracht oder verkauft. Der Alte und ich hatten keine Ahnung, was los ist.“
„Nichts ist los“, murmelte Ranofer und linste schnell über die Schulter. Gebu stand ein paar Schritte entfernt im Schuppen. „Komm, lass uns woanders hingehen.“ Als sie in Richtung Fluss aufbrachen, fügte er hinzu: „Ich… ich war nur ziemlich beschäftigt, das ist alles. Pai hat mich immer bis spät abends arbeiten lassen, und manchmal auch über Mittag…“
Er schluckte. Er gab es auf, eine halbwegs plausible Ausrede zu suchen. Aber Heqet erzählte schon munter drauf los – von Setma und dem Streit, den der Alte belauscht hatte, von Lotos, dem Esel, der vor einigen Tagen angefangen hatte zu lahmen, und von dem Alten, der den Fuß des Esels mit Rizinusöl massierte und mit kühlem Fluss-Schlamm abrieb. Ranofer hörte zu und entspannte sich langsam. Sie kamen bei der Laube an, grüßten den Alten und begutachteten Lotos’ Fuß, dem es inzwischen wieder besser ging. Sie saßen eine Weile zusammen wie früher und Ranofer stellte fest, dass er durchaus mit Heqet zusammen sein konnte, ohne von dem Kelch zu erzählen. Heqet redete so viel wie immer. Entweder merkte er nicht, dass Ranofer sehr wortkarg war, oder er überging es taktvoll. Der Alte heftete sein Auge immer wieder forschend auf Ranofer, stellte aber keine Fragen.
Nur einmal kamen sie in die Nähe des gefährlichen Themas. Es geschah so plötzlich, dass Ranofer schon dachte, alles sei zu spät. Heqet sagte auf einmal: „Ich habe eine Idee, wegen dieser Sache mit dem Grab.“
„D-die Sache mit dem… Grab?“, stotterte Ranofer. „Ja, die Zeichnung. Erinnerst du dich? Die kleine Kammer, auf die du dir keinen Reim machen konntest.“
„Oh!“, stieß Ranofer erleichtert aus. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Natürlich erinnerte er sich an die Kammer und an Gebus Wut; seit jenem Tag hatte er aber nicht mehr daran gedacht. Der Kelch hatte sich vor alle anderen Bilder in seiner Erinnerung geschoben. „Meiner Meinung nach“, sagte Heqet und kniff verschlagen die Augen zusammen, „wollen Gebu und Wenamun die Kammer selbst nutzen.“
„Gebu und Wenamun?“
„Ja! Um sich heimlich zu treffen und um das gestohlene Gold zu verstecken. Jetzt, wo Setma nicht mehr für sie schmuggelt…“
Der Alte gab sein kicherndes, glucksendes Lachen von sich. „Heqet, mein Junge, die solltest Geschichtenerzähler auf dem Marktplatz werden, dann wärst du bald steinreich. Die Leute würden dich für deine tollen Märchen nur so mit Kupfer überschütten! Glaubst du vielleicht, jemand teilt freiwillig das Haus der Ewigkeit mit einem Verstorbenen?“
„Aber das Grab ist doch noch gar nicht besetzt!“, widersprach Heqet. „Es ist noch nicht mal fertig, oder, Ranofer? Sie könnten einen separaten Eingang graben.“
„Mit dem Bau wurde noch nicht einmal begonnen“, sagte Ranofer barscher, als er wollte. „Noch nicht einmal begonnen?“
Heqet klang so enttäuscht, dass es Ranofer Leid tat, so brüsk gewesen zu sein. Er hätte zwar dieses Thema gerne beendet, sagte dann aber: „Sie fangen erst nach dem Kommen des Hapi an, erst während der Überschwemmung. Bis dahin sind es noch drei Wochen. Der Bau dauerte Monate, immer werden Arbeiter da sein. Sie würden es nicht wagen, dort etwas zu verstecken.“
„Da hast du Recht“, sagte Heqet betrübt. „Aber es war trotzdem eine tolle Idee“, kicherte der Alte.
„Toll, wenn es geklappt hätte – sagte der Fisch, als er zu Fuß gehen wollte.“ Heqet grinste. „Na, macht nichts. Ich werd mir was andres ausdenken.“
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