Der goldene Kelch
Ranofer wollte schon sagen, dass er das lieber bleiben lassen und nicht mehr von Gräbern sprechen sollte, wechselte dann aber schnell das Thema. „Stellt euch vor, in drei Wochen ist schon das große Nilfest!“ Das hatte eingeschlagen. Die drei überstürzten sich mit Beiträgen zu diesem Thema, dem größten Fest des Jahres. Der Fluss würde endlich wieder über die Ufer treten und alle Bewässerungskanäle würden geöffnet, um die Leben spendende Flut aufzunehmen. An diesem Tag arbeitete niemand. Ganz Ägypten war auf den Beinen und feierte in den Straßen. Sogar der niederste Wasserträger durfte auf Kosten des Pharaos essen und trinken. Die Aussicht auf Honigkuchen, Datteln und Salzfisch hob sogar Ranofers Stimmung. Die drei Freunde planten, den Festtag von morgens bis abends zusammen zu verbringen, vor lauter Begeisterung waren Gräber und Kelche ganz vergessen.
Als sie sich an der Hauptstraße trennten und Ranofer alleine weiterging, kam die Sorge jedoch wie ein Dämon auf leisen Schwingen wieder zurück. Die Zeichnung von dem Grab ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, auch nicht Heqets Idee, dass die Kammer von Dieben genutzt werden könnte. Ranofer war zwar sicher, dass nichts von dem zutraf, was Heqet sich ausgemalt hatte; die Kammer war kein heimlicher Treffpunkt, dort wurde auch kein gestohlenes Gold versteckt. Ob sie aber etwas mit den Grabplünderungen zu tun hatte? Aber was? Wie? Mit dem Bau war noch nicht einmal begonnen worden und der Besitzer, der Oberdomänenverwalter des Pharao, erfreute sich noch bester Gesundheit. Auf Jahre hinaus würde es kein Begräbnis geben und somit würden sich auch keine Schätze in dem Grab befinden. Nein, es konnte keine Verbindung zwischen der Zeichnung und dem Kelch geben. Gebu war an jenem Tag einfach schlecht gelaunt gewesen, weil er den Kelch in seinem Zimmer versteckt hatte und die Schuld schwer auf ihm lastete. Nun war der Kelch im Lager der Werkstatt und die Verantwortung lastete auf Ranofer. Er suchte, so oft er konnte; aber so viel er auch suchte, er fand den Kelch nicht.
Wahrscheinlich hat sich Gebu mit den Dämonen verbündet!, dachte Ranofer verzweifelt. Ein Sterblicher könnte den Kelch niemals so gut verstecken. Vielleicht hat Gebu den Kelch wieder an sich genommen und ich habe es nicht bemerkt. Vielleicht spät in der Nacht. Aber ich habe seine Tür schon lange nicht mehr nachts gehört. Nein, der Kelch war bestimmt noch im Lager. Aber wieso kann ich ihn dann nicht finden? So verging ein Tag nach dem anderen. Der Fluss stieg stetig an, erreichte schon fast die Ufer, er wurde breiter, voller, schneller. Ranofers Leben aber bestand wie immer aus Sorge, Arbeit und Gebus gelegentlichen Schlägen; der tägliche Trott wurde nur unterbrochen, wenn er mittags oder abends seine Freunde im Röhricht traf. Er war froh, sie nicht länger meiden zu müssen, aber sein Geheimnis konnte er nicht mit ihnen teilen. Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass das anders wäre, denn er spürte immer deutlicher, dass ihre Treffen nicht mehr so unbeschwert waren wie früher. Der Kelch hing wie ein unsichtbarer Schatten über der kleinen, grünen Laube und verdunkelte jedes Wort, das Ranofer sagte; so jedenfalls empfand er es. Als Heqet und Ranofer einmal allein waren, brachte Heqet das Thema zur Sprache: „Du hast Sorgen, nicht wahr, Ranofer? Irgendwas ist passiert. Kann ich dir vielleicht helfen?“
„Nein, nein, nichts“, sagte Ranofer so beiläufig wie möglich.
„Du meinst, ich kann nichts tun?“
„Nein, ich meinte, es ist nichts passiert. Lass uns über das Kommen des Hapi sprechen.“
„Aber darüber haben wir doch vorher schon gesprochen! Dann habe ich dir meine neue Idee in Bezug auf die Kammer erzählt, und du hast dich wieder in dein Schneckenhaus zurückgezogen, und jetzt willst du plötzlich wieder über das Fest sprechen.“
„Ja. Warum denn nicht? Das ist doch ein schönes Thema. Jedenfalls angenehmer als Gräber, Kammern und…“ Ranofers Stimme verebbte in unverständlichem Genuschel. Er starrte auf seine Zehen. Er fühlte sich miserabel.
Nach langem, verlegenen Schweigen sagte Heqet halb spöttisch, halb unsicher: „Bin ich dir unangenehm? – sagte die Viper zur Natter.“
Ranofer musste unweigerlich grinsen. Beide brachen in lautes Lachen aus, aber der Bann war immer noch nicht gebrochen.
„Ich bin nicht giftig“, sagte Ranofer. „Ich auch nicht. Es… es tut mir Leid, es ist nur, weil du so anders bist als sonst.“
„Anders?“
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