Der goldene Kelch
Ranofer machte große Augen. Sah man ihm etwa an, dass er ein Geheimnis hatte? „Nicht unbedingt anders“, Heqet betrachtete ihn aufmerksam, „eher so wie damals, als wir uns im Goldhaus kennen lernten. Damals waren dir meine Fragen auch unangenehm und du wolltest deine Ruhe haben.“
„Das war damals. Jetzt aber…“ Ranofer fühlte sich elend. „Na ja, vielleicht brauche ich doch meine Ruhe. Nur eine Zeit lang. Ich kann dir das nicht erklären.“
„Macht doch nichts“, sagte Heqet und grinste. „Vielleicht sollten wir doch über das Fest sprechen.“ In jenen Tagen gab es kein anderes Thema. Jeder machte Pläne und dachte an nichts anderes. Ranofer hätte das auch gerne getan, aber der Kelch ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hasste Gebu mehr denn je, er hasste seine harte Hand und das, was er getan hatte. Am meisten aber hasste er das Gefühl, dass Gebus Untat auch auf ihn übergriff wie eine Krankheit. Mit jedem Tag, der verging, lastete das Geheimnis schwerer auf ihm und er fühlte sich immer schuldiger: Ein Verbrecher lief frei in Theben herum, weil Ranofer, der Sohn Thutras, zu feige war, die Tat anzuzeigen! Aber, bei Amun, er würde ja Gefahr laufen, selbst gehängt oder eingekerkert zu werden, wenn er keinen Beweis für seine Geschichte hatte. Wenn ich doch nur den Kelch gleich genommen hätte!, dachte er verzweifelt. Oder wenn ich wenigstens sicher sein könnte, dass er im Lager ist. Ich wünschte, ich wüsste, was tun! Und wie ich es anstellen soll! Ein Tag vor dem Fest wurde sein Wunsch ganz unerwartet erfüllt, jedoch mit verheerenden Folgen. Am Mittag ging er zur Laube, um mit den Freunden endgültig zu besprechen, wie sie den Festtag verbringen wollten. Heqet kam spät; er platzte fast vor lauter Neuigkeiten. „Schnell, setz dich, Ranofer! Hier – nimm Käse! Was heute passiert ist, errätst du nie.“
„Was ist denn passiert?“, fragte Ranofer ein wenig misstrauisch. Er hatte gelernt, nicht zu viel von Heqets begeisterten Ankündigungen zu erwarten. „Ich bin Wenamun wieder gefolgt – ganz zufällig, um ehrlich zu sein. Ich wollte gerade losgehen, um dich zu treffen – jetzt gerade vor ein paar Minuten –, da sah ich Wenamun und dachte, ich könnte ihm ja eine Weile folgen. Er bog in die Straße der Töpfer ein – du weißt schon, bei Abas Töpferei. Daneben steht ein großer Schuppen, eigentlich nur ein Dach auf vier Pfosten, dort trocknet Aba seine Krüge und Töpfe.“
„Ja, ja, ich weiß. Und weiter?“ Irgendetwas an dieser Geschichte behagte Ranofer ganz und gar nicht. Gebu würde bestimmt keine Grabschätze in Krügen und Töpfen verstecken.
„Also, dort wartete Gebu! Er tat so, als würde er müßig gehen und Töpfe anschauen, in Wahrheit aber wartete er. Wenamun wiederum tat so, als wäre er zufällig, ganz zufällig natürlich, vorbeigekommen und hätte Gebu gesehen, er blieb stehen und grüßte. Jeder, der das sah – außer mir – “, Heqet kniff verschlagen die Augen zusammen, „musste den Eindruck bekommen, sie gingen in den schattigen Schuppen, um ein paar Höflichkeiten auszutauschen. Das war schlau eingefädelt, aber ich war schlauer.“
„Konntest du hören, was sie sagten? Los, erzähl schon!“ Aber Heqet ließ sich nicht zur Eile treiben. „Darauf komme ich schon noch zu sprechen. Ich schlich mich also auch in den Schuppen, kroch zwischen den Bänken und Tischen voller Tongefäße in ihre Nähe und versteckte mich hinter einer Bank mit einem Stapel neuer Wasserkrüge. Das dauerte allerdings eine Weile, denn ich wagte kaum zu atmen. Ich konnte also nicht hören, was sie am Anfang sagten.“
„Was konntest du denn dann hören? Weiter, Heqet!“
„Erst sprach Gebu, er sprach sehr leise, aber was er sagte, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Er sagte: ,Verfluchtes Fest!’ Stell dir vor – er hat das große Nilfest verflucht!“
„Und weiter!“, drängte Ranofer ungeduldig. „Ja, ja, bin schon dabei. ,Verfluchtes Fest!’, hat er gesagt. ,Der Nil kann auch ohne uns schwellen. Morgen ist die Sache sicher. Wir treffen uns bei Tagesanbruch beim Platz mit dem krummen Baum.“
Ranofer erstarrte. Ihm blieb das Herz stehen, sein Atem stockte, seine Gedanken flogen davon – wie in der Werkstatt, wenn am Mittag das Klappern aufhörte und plötzlich Todesstille herrschte. Heqets Augen glänzten. Er konnte mit sich zufrieden sein.
„Dann sagte Wenamun: ,Wir sollten ein Jahr warten; das wäre sicherer.’ Gebu hat ihn angeknurrt wie ein wütender
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