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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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handelte oder um abgetragene Sandalen – diese Dinge gehörten den Toten, und kein Lebender hatte das Recht, die Kammer zu betreten, nicht einmal der Sohn des Thutra, der ihnen ganz bestimmt nichts Böses wollte. Ranofer konnte fast das hilflose Flattern der aufgeschreckten Bau der alten Leutchen hören. Von Schuldgefühlen überwältigt fiel er auf die Knie und bat um Vergebung für sein Eindringen.
    Plötzlich sah er hinter dem ersten Sarkophag eine Reihe Weinkrüge; die Öffnung war mit Leinen umspannt und mit Lehm versiegelt. Ranofer kannte das Zeichen – jeder in Ägypten kannte es: das persönliche Siegel Jujas, des Göttlichen Vaters der Königin. Erst vor zwei Jahren war er gestorben.
    Zitternd von Kopf bis Fuß rappelte Ranofer sich auf und wich ein paar respektvolle Schritte zurück; unweigerlich streckte er zum Zeichen der Huldigung seine Hände zu den Sarkophagen aus. Hier lagen Juja und seine geliebte Gemahlin Tuja, die Eltern der Königin von Ägypten. Und er, ein unbedeutender Niemand, wagte es, ihnen ins Gesicht zu sehen! Am liebsten wäre er auf der Stelle im Boden versunken! Er kam sich vor wie ein verdreckter Landstreicher, der sich in einen Palast geschlichen hatte; und so war es ja auch.
    Es war sogar noch schlimmer – jeden Moment konnten die beiden Grabräuber hier eindringen, alles zerstören und plündern, die Goldornamente von Sesseln und Truhen reißen, die Schmuckschatullen stehlen, die schönen Sarkophage aufbrechen und sogar die Binden der königlichen Mumien abwickeln, um die goldenen Amulette zu rauben, die man ihnen auf den Körper gelegt hatte. Das durfte nicht geschehen! Die beiden alten Leute müssten einen starken, mächtigen Wächter haben! Aber sie haben nur mich, dachte Ranofer. Ich muss etwas tun… irgendwas… Ich muss Hilfe holen… Er drehte sich um und lief schnell zum Loch in der Wand – zu schnell, denn sein Ellbogen streifte einen kleinen Intarsientisch mit einer Alabastervase. Die Vase schwankte, Ranofer wollte sie noch auffangen, aber sie fiel und zerbrach klirrend auf dem Boden. Das Echo der Katastrophe klang wie der Weltuntergang selbst. Sofort verstummten die gedämpften Geräusche in der Kammer nebenan. Ranofer richtete ein Stoßgebet zu Osiris, dem Barmherzigen, und konnte gerade noch hinter die Sarkophage hechten, bevor die Fackel im Eingang erschien und Gebus Fratze beleuchtete. „Da hast du’s!“, zischte Wenamun. „Ich hab doch gesagt, wir sind nicht allein!“
    „Das werden wir gleich haben.“ Gebus Stimme klang kälter als der Tod. Ranofer schauderte. Er sah deutlich die zwei schwarzen Schatten an der Wand: Gebus massige Gestalt, dahinter der hagere Wenamun mit seinem Geierbuckel. Die Schatten bewegten sich, wanderten in der Todesstille an der Wand entlang, sprangen unerwartet an die steinerne Decke und wieder zurück, während die beiden Männer systematisch die Kammer absuchten.
    Die tanzenden schwarzen Schatten wurden immer größer, kamen immer näher. Vor den Sarkophagen türmten sie sich auf wie Riesen. Ranofer streckte blind die Hand aus, er ertastete einen kleinen, kompakten Gegenstand, der sich anfühlte wie eine Schmuckschatulle. In diesem Augenblick beugte sich Gebus wutverzerrtes Gesicht über den Sarkophag.
    Mit einem Satz war Ranofer auf den Beinen und schleuderte ihm mit aller Kraft die Schatulle ins Gesicht. Es gab einen glitzernden Juwelenhagel, Gebu stieß einen heiseren Schrei aus, die Fackel fiel ihm aus der Hand, er taumelte rückwärts und stieß gegen Wenamun, der kreischend und fluchend versuchte, die Flamme auszutreten, die schon an seinem Umhang emporzüngelte. Das war Ranofers Chance. In dem ganzen Durcheinander packte er den nächstbesten Weinkrug und zielte auf die Fackel. Der Krug krachte auf den Boden, die Fackel erlosch mit einem letzten Zischen, der Raum war in Dunkelheit getaucht. Durch den Weindunst und den brenzligen Geruch versengten Tuches stürzte Ranofer zur gegenüberliegenden Wand und tastete hektisch nach dem Loch. Die unheimliche Finsternis hinter ihm hallte wider von Schreien und Flüchen. Splitterndes Holz, Gold und Edelsteine knirschten unter den Tritten der beiden Diebe, die auf dem weingetränkten, rutschigen Boden hin und her trampelten und versuchten, ihn zu packen.
    Wo, bei allen Göttern, war dieses Loch? Da ertastete er ein Stück gebrochenen Mörtels, daneben war das Loch. Im selben Augenblick war er schon durchgeschlüpft und kroch auf allen vieren den dunklen Gang mit der niedrigen Decke

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